Die Überschrift dieses Beitrags stammt von Ernest Mandel, dem belgischen Trotzkisten und Rätekommunisten. Vor über dreißig Jahren erschien im Berliner Dietz Verlag ein Buch mit diesem Titel, in dem Mandel seine Vorworte zu einer 1979 erschienenen englischen Ausgabe der drei Bände des Marxschen „Kapitals“ gesondert veröffentlichte. Die Publikation war überfällig: Nicht nur, dass Mandel in der DDR verfemt war (eine Zeitlang hatte er auch in der BRD ein Einreiseverbot), auch hinsichtlich des „Kapitals“ waren hierzulande die Kontroversen „westlicher“ Ökonomen darüber kaum reflektiert worden.
Seit 1979 hat sich bezüglich der Diskussion über das Marxsche Hauptwerk eine Menge getan. Eine „Neue Marxlektüre“ wurde immer populärer, es entwickelten sich ein „pluraler Marxismus“ und die These von der Existenz verschiedener „Marxismen“. Autoren und Autorinnen der „Wertkritik“ versuchen Marx zu überwinden oder an ihm vorbeizugehen. Dank des Internets und des Falls der Mauer hat sich die Diskussion in einer früher kaum denkbaren Weise internationalisiert und es kursieren dutzende Einführungen in „Das Kapital“. Vor allem aber wurden in der Abteilung II der Marx-Engels-Gesamtausgabe MEGA alle Originalmanuskripte zum „Kapital“ und seinen Vorarbeiten von Marx und Engels veröffentlicht.
Der Marx-Kenner Klaus Müller hat es nun unternommen, einen umfassenden Überblick über die unter Marxisten strittigen Fragen zum „Kapital“ zu geben. Er hat zu einzelnen dieser Fragen bereits mehrere Bücher und Artikel veröffentlicht, aber diesmal bietet er eine systematische Gesamtschau der „offenen Probleme“ an, die sich an der Struktur der drei Kapitalbände orientiert. Im Mittelpunkt stehen nicht die Positionen von erklärten „Marxtötern“ aller Couleur, sondern von Ökonomen, die sich positiv auf Marx beziehen. „Mir geht es nicht in erster Linie darum, um jeden Preis recht zu haben“, schreibt Müller, „sondern beizutragen zur Klärung der Probleme, die unter marxistischen Ökonomen strittig sind.“ Freilich hält der für scharfzüngige Polemik bekannte Autor mit seiner Meinung nicht hinterm Berg und hat nichts dagegen einzuwenden, als „orthodoxer“ oder „traditioneller“ Marxist eingeordnet zu werden.
Als besonderes Merkmal der vorgelegten Arbeit kann gelten, dass sie auch auf die Kontroversen über Arbeit, Wert, Wertmessung, Geld, Preis, Kapital und Monopol eingeht, die seinerzeit unter sowjetischen und DDR-Ökonomen geführt wurden und deren Inhalte und Ergebnisse heute weitgehend ignoriert werden. Nichts ist kurzsichtiger, als sie in Bausch und Bogen als ausschließlich parteipolitisch geprägt und wissenschaftlich wertlos zu betrachten. Was von manchen Marxinterpreten als neue Einsicht hingestellt wird, hätte sich beim Studium jener Literatur als längst bekannt herausgestellt.
Müllers Liste strittiger und „scheinbar oder tatsächlich ungelöster Probleme der marxschen ökonomischen Theorie“ ist trotz einiger Lücken ziemlich lang. Sie beginnt mit der Diskussion über die Forschungs- und Darstellungsmethode von Marx, schließt die Frage nach dem Ursprung des Kapitalismus, der berühmten „Dobb-Sweezy-Kontroverse“ ein und zieht sich durch nahezu alle Gegenstände der drei Kapitalbände: Was ist abstrakte und was konkrete, was einfache und was komplizierte Arbeit? Wie lassen sich Arbeitsmengen messen? Was ist Wert und was die Wertgröße? Was ist Geld? Wie und wo entsteht Mehrwert? Wieso gibt es einen täuschenden Schein der Dinge? Steigt oder sinkt der Wert der Arbeitskraft im Verlauf der Wirtschaftsgeschichte? Sind die Reproduktionsschemata des Band II ein Gleichgewichtsmodell der kapitalistischen Wirtschaft? Sind sie korrekt oder müssen sie im Gefolge der Revision durch Rosa Luxemburg überarbeitet werden? Wie hängen Werte und Preise zusammen und worin besteht das vieldiskutierte „Transformationsproblem“ im dritten Band? Gibt es da überhaupt ein Problem? Gibt es unter monopolistischen Bedingungen eine Wertmodifikation? Was hat es mit dem Zweifel am Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate auf sich? Ist die Grundrententheorie von Marx noch aktuell, weist sie womöglich Konstruktionsfehler auf?
Was in dieser Aufzählung nur angedeutet werden kann, ist weder vollständig noch so detailliert, wie es von Müller diskutiert wird. Ich bin mir nicht sicher, für wen das Buch geschrieben wurde. Einerseits setzt es ein gehöriges Maß an politökonomischen und Literaturkenntnissen voraus und wendet sich wohl eher an ein Fachpublikum. Andererseits ist es so anregend geschrieben, dass es geradezu anstachelt, tiefer in die nicht einfache Materie einzudringen und sich der Originalliteratur zuzuwenden. Literatur-, Personen- und Sachregister unterstützen solches Vorhaben vorbildlich.
Marx hat ein schwieriges Werk hinterlassen. Sein Gegenstand, die sich historisch immer wieder modifizierende kapitalistische Ökonomik, ist voller Tücken und Widersprüche, so dass es schwer vorstellbar ist, das literarische Werk eines Forschers enthalte nicht auch Widersprüche, Interpretationsspielräume und Missverständliches. „Das Kapital“ blieb ein Torso nicht nur, weil das Leben seines Autors zu kurz war, sondern auch, weil er bis zuletzt über Ergänzungen, Präzisierungen und Umarbeitungen nachdachte und in den von ihm besorgten Auflagen und Übersetzungen Veränderungen vornahm. Gegen Ende seines Lebens äußerte er zwar, mit der Fertigstellung der Bände II und III ziemlich weit zu sein, hatte aber Skrupel, etwas zu veröffentlichen, bevor nicht die Krise von 1879 ihren Höhepunkt erreicht hätte, weil sie sich in vielem von früheren Krisen unterscheide. Marx hätte bei grundsätzlicher Übereinstimmung mit seinem Freund Friedrich Engels die Bände II und III sicher anders gestaltet, als dieser sie schließlich herausgab. Engels hat eine Riesenarbeit vollbracht, die Wissenschaft wäre viel ärmer, hätte er nicht den Mut, das Wissen und die geradezu intime Kenntnis von Marx Arbeit gehabt, um dieses Werk zu vollbringen. Es blieb dennoch ein Torso und wir wissen heute, dass Marx auch Irrtümern unterlag. Seinem Credo „An allem ist zu zweifeln“ blieb er bis zum Ende treu und beabsichtigte, selbst Band I nochmals umzuarbeiten.
In der Darstellung der Kontroversen zu einzelnen Gegenständen des „Kapitals“ geht Müller stark differenzierend vor, wägt inhaltliche Aussagen und Formulierungen genau ab, vergleicht sie damit, was Marx an verschiedenen Stellen geschrieben und seiner Ansicht nach wirklich gemeint hat, äußert selbst da und dort Zweifel an der Eindeutigkeit Marxscher Aussagen. Zum „axiomatischen Bestand“ seiner ökonomischen Lehre, auf den man nicht verzichten könne, „ohne aufzuhören Marxist zu sein“ gehören laut Müller die Erkenntnis vom Doppelcharakter der warenproduzierenden Arbeit, die Bestimmung des Warencharakters der Arbeitskraft von Lohnarbeitern im Kapitalismus, die Wesensbestimmung des Mehrwerts und der Ausbeutung sowie des Mehrwertgesetzes als dem Grundgesetz des Kapitalismus. Es scheint nicht viel zu sein, um in Müllers Augen als Marxist zu gelten, aber es grenzt natürlich viele andere Zugänge zum Marxismus aus. Als Marx und Engels das „Kommunistische Manifest“ schrieben, hatten sie von diesen Theorien noch keine wirkliche Ahnung. Ist also kein Marxist, wer sich darauf beruft, ohne „Das Kapital“ gelesen und verstanden zu haben?
Müller titelt sein Buch „Steile Pfade, lichte Höhen. Marxistische Wirtschaftstheorie im 21. Jahrhundert“. Der erste Teil variiert eine Aussage von Marx über die Wege, die das Studium eines so komplizierten wissenschaftlichen Werkes wie des „Kapitals“ zurücklegen muss. Der zweite Teil enthält einen Anspruch, von dem ich bezweifle, ob Müller ihn mit seiner Arbeit einlöst. Marx‘ ökonomisches Forschungsprogramm – der sogenannte 6-Bücher-Plan – erschöpfte sich nicht im „Kapital“. Die kapitalistische Ökonomik hat sich weiterentwickelt und heute stellen sich Fragen, auf die in seinem Werk nichts, in neueren marxistischen Arbeiten aber sehr wohl etwas zu finden ist. Seine Erkenntnisse mögen eine unverzichtbare Grundlage sein, von der aus sich die gegenwärtige Wirtschaft verstehen lässt, aber sie sind nicht die marxistische Wirtschaftstheorie im 21. Jahrhundert. Die heutige Physik ist nicht denkbar ohne die Kenntnis von Newtons Gesetzen der Bewegung und seinem naturwissenschaftlichen Weltbild, aber Newtons Theorien bilden nicht die Physik des 21. Jahrhunderts.
Klaus Müller: Steile Pfade, lichte Höhen. Marxistische Wirtschaftstheorie im 21. Jahrhundert. Mangroven Verlag, Kassel 2024. 463 Seiten. 36 Euro.
Schlagwörter: Das Kapital, Ernest Mandel, Jürgen Leibiger, Klaus Müller, Marx, Wirtschaftstheorie