28. Jahrgang | Nummer 6 | 24. März 2025

Ideale und warum wir an ihnen festhalten sollten

von Stephan Wohanka

In einem Blättchen-Text schrieb ich: „Die unipolare Weltordnung nach dem Kalten Krieg stützte sich neben der militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit der USA auf die Verbreitung liberaler Werte – zwar nie erreicht, aber als Ideal auch nie infrage gestellt – wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte“. Wenn Ideale nie (oder kaum) erreicht werden – lassen wir doch von ihnen ab! Unnötiger moralischer Ballast …

Ohne hier Philosophisches allzu sehr zu bemühen, könnte man sagen, dass das Ideal die Idee zur Grundlage hat; das Ideal konkretisiert die Idee, gibt ihr ihre höchste moralische Ausprägung. Das Ideal ist also, allgemeiner formuliert, der Archetyp dessen, das nachgeahmt werden sollte, weshalb es sich sowohl in der Ästhetik, in der Moralphilosophie, aber auch in der (internationalen) Politik wiederfindet; nur letztere soll hier weiter interessieren.

Für das Festhalten an Idealen wie der Stärke des Rechts in der nationalen und internationalen Politik oder der Menschenwürde und anderer gibt es trotz ihres häufigen Scheitern gute Gründe. Ein erster Grund besteht wohl in der Legitimation von Herrschaft und Macht. Historisch haben verschiedene Denkschulen wie die der göttlichen Vorherbestimmung, die des Rousseaus Gesellschaftsvertrag als Unterwerfung unter einen allgemeinen Willen, die „volonté générale“ und die der utilitaristischen Prinzipien unterschiedliche Ansätze zur Begründung politischer und sozialer Machtstrukturen angeboten.

Moderne liberal-demokratische Staaten und Regierungen legitimieren ihre Autorität mit universellen Werten wie Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Diese Werte dienen ihnen als Grundlage für die gesellschaftliche Akzeptanz politischer Führung und staatlicher Ordnung. Als Ideale bieten sie eine normative Grundlage, an der politische Entscheidungen und gesellschaftliche Entwicklungen sich messen lassen müssen. Diese Gesellschaften brauchen Ideale, um ein gemeinsames Identitätsgefühl zu stiften. Werte wie Menschenwürde sind Teil von Verfassungen und nationalen Narrativen, die gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern.

Ideale sind auch Ausgangspunkt für gesellschaftliche Kritik an konkreten Zuständen, die ohne das Vorhandensein ersterer so gar nicht geübt werden könnte. Auch gesellschaftliche und politische Reformen und – noch allgemeiner – sozialer Fortschritt bedürfen der Ideale als Basis, von der aus die Fortentwicklung durch entsprechende Gesetze, Handlungen, Aktionen und erst mess- und erlebbar wird. Ideale und Werte sind so auch Druckmittel für progressive Veränderungen.

Staaten, die sich zu bestimmten Werten und moralischen Idealen bekennen, erhöhen ihr internationales Prestige und ihren Einfluss. Diese sogenannte soft power beruht darauf, als Staats-oder Gesellschaftsmodell attraktiv für andere zu sein. Nicht zu verkennen ist dabei jedoch, dass Begriffe wie Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit auch oft strategisch genutzt, ja missbraucht werden, um als Argumente für Sanktionen oder internationale Interventionen herzuhalten. Auch die sogenannten doppelten Standards fallen darunter. Westliche Länder, so kritisieren Vertreter aus Ländern des Globalen Südens, würden sich zwar offiziell zu internationalen Regeln und Prinzipien bekennen, in ihrer praktischen Politik würden sie diese aber nur unzureichend einhalten oder implementieren. So klagte der Präsident Indonesiens, Prabowo Subianto, im April 2024: Wenn es um den Einsatz für Frieden in der Welt gehe, habe der Westen „die einen Grundsätze für die Ukraine und andere Grundsätze für die Palästinenser“.

Und trotzdem sollten wir angesichts dessen, dass Großmächte wie Russland, die USA und China auf das Recht des Stärkeren setzen, an der Stärke des (internationalen) Rechts festhalten.

Auch für das Beharren auf Artikel 1 Grundgesetz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ gibt es gute Gründe – sie ist das moralische und rechtliche Fundament unserer Gesellschaft. Und auch die Menschenwürde wird häufig verletzt. Das bedeutet nicht, dass das Prinzip falsch wäre – im Gegenteil: Gerade deshalb sollten wir zu ihm stehen und alles daran setzen, es zu verteidigen und sich weiter für seine Umsetzung einzusetzen. Dieser Artikel, seine Intension, dient als Grundlage für Gesetze, Gerichtsentscheidungen und gesellschaftliches Handeln; er ist daher Maßstab für Legislative, Exekutive und Judikative. Stellten wir ihn infrage, wäre das ein gefährlicher Schritt in Richtung Relativierung von Menschenrechten, wodurch der Mensch zum Objekt eines beliebigen Verhaltens degradiert würde; wir kämen wohl schnell wieder in Debatten um „unwertes Leben“. Aus gutem Grund ist daher Artikel 1 von Änderungen im Grundgesetz ausgenommen. Das schließt unbedingt ein Nachdenken darüber ein, wie wir und mit welchen Maßnahmen die Menschenwürde (noch) besser schützen können.

Der Schutz der Menschenwürde besitzt interessanterweise zwei Funktionen. Zum einen dient er Bürgern als Abwehrrecht gegen verletzende staatliche Maßnahmen, wendet sich also unmittelbar gegen einen übergriffigen Staat; zum anderen dient er aber auch dem Schutz gegen Verletzungen durch Dritte, wodurch ebendieser Staat nun Schutzansprüchen gerecht werden muss.

Eine Analogie zu den politischen Idealen bilden die Biblischen Zehn Gebote. Auch die werden seit deutlich über 2.000 Jahren permanent gebrochen. Und trotzdem hält die Kirche an ihnen fest. Dafür gibt es rein theologische Gründe – die Gebote wurde von Gott am Berge Sinai offenbart; sie gelten so als Ausdruck göttlichen Willens und sind daher bindend für Gläubige. Jesus fasste die Gebote zusammen in dem Doppelgebot der Liebe: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben … und deinen Nächsten wie dich selbst“.

Auch die massive Kritik an der Kirche und ihren Würdenträgern, die sich selbst schwer an den Geboten vergehen, etwa was (sexuellen) Machtmissbrauch oder Doppelmoral angeht, führt(e) nicht dazu, dass die Kirche sich und die Gebote infrage stellt; sie sieht sich weiterhin ungebrochen als Bewahrerin göttlicher Werte; wohl letztlich auch aus guten Gründen.

Theologen weisen darauf hin, dass die Gebote nicht als starre Gesetze, sondern als Orientierungshilfen gedacht seien. Dass Menschen sie immer wieder verletzen, zeige die Unvollkommenheit des Menschen und seine Sündhaftigkeit – was wiederum die Notwendigkeit von Reue, Vergebung und Gnade betont. Im weltlichen Kontext war Sünde oft auch ein gesetzliches Vergehen. In der Aufklärung trennte sich Sünde allmählich von weltlicher Moral. Reue und Vergebung beeinflussten stark die weltlichen Vorstellungen von Rechtsfindung und Gnade („Gnadengesuch“). Auch die Restorative Justice, ein Konzept, bei dem Täter und Opfer sich aussöhnen sollen, hat hier ihre Wurzeln. (Individuelle) Toleranz, Respekt, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit basieren desgleichen auf den Geboten. Darüber hinaus sind sie Grundlage abendländischer normativer Orientierungen; die Werteordnung unserer westlichen Gesellschaft basiert auf diesen Geboten.

Alles in allem – Ideale dienen als Zielvorstellungen, als Rechtfertigung für politische Macht und als Mittel zur politischen Einflussnahme. Ihr Bestehen zeigt, dass sie als maßgebende Grundlage essentiell sind. Ihr häufiger Bruch steht paradoxerweise dafür. Ideale inspirieren sowohl Gesellschaften als auch Menschen, nach Verbesserung zu streben und das Beste zu geben. Sie sind praktisch relevant für die Beurteilung politischer Fragen im Hier und Jetzt, können aufzeigen, wie „gut“ Gesellschaft zu sein vermag.

Wer sieht, wie die Demokratie weltweit erodiert, den verschreckt Donald Trumps Wüten gegen  staatliche Institutionen der USA und deren schnelle Aushöhlung. Er nimmt fatale Parallelen zu jenen Noch-Demokratien wahr, in denen zielstrebige Autokraten, gestärkt durch ihre Wahlsiege, ins Amt kamen und die normative Noch-Begrenzungen ihrer Macht mit (pseudo)rechtlichen Mitteln aus dem Weg räumen. Kämen sie damit endgültig durch, stürbe die Demokratie, ihre Werte, ihre Ideale und am Schluß, das zumindest zeigt das deutsche Beispiel, könnte es wieder zu einer Art NS-Diktatur führen. Wir lebten darüber hinaus in einem geopolitischen Dschungel, in dem moralisch fragwürdig handelnde, nur an militärische Macht glaubende Männer herrschten.

Wer auch immer in der künftigen Regierung Verantwortung tragen wird, muss tun, was Kanzler Scholz nach Kräften vermied, um – wie er wohl annahm – die ohnehin schon erregte Gesellschaft nicht noch weiter aufzubringen: Gute Führung zeigen. Und die notwendigen Entscheidungen zur Abwendung der Bedrohung Deutschlands einschließlich seiner Werte und Ideale sowie seiner materiellen Grundlagen nicht nur aus inneren Zuständen, sondern auch aus der Brutalität der globalen Machtspiele in Politik und Ökonomie heraus zu erklären – und das nicht nur einmal, sondern immer wieder. Das kann entgegen Scholz die Gesellschaft befrieden.