28. Jahrgang | Nummer 6 | 24. März 2025

Drei große Klassen

von Bernhard Mankwald

Jürgen Leibiger fragt im Blättchen 5/2025, ob man jemanden als Marxisten bezeichnen kann, der sich auf das „Manifest der kommunistischen Partei“ beruft, ohne „Das Kapital“ gelesen und verstanden zu haben. Die Frage kann hier nicht beantwortet werden; wohl aber soll gezeigt werden, dass die Fehlprognosen der ersteren Schrift durch gründliche Lektüre der letzteren verständlich werden.

In ihrem Manifest aus dem Jahre 1848 stellen Karl Marx und Friedrich Engels ihre Interpretation der menschlichen Gesellschaft so dar: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Dabei konzentrieren sie sich auf den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit: „Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich […] dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“

Die Existenz anderer Klassen leugnen die Autoren nicht, sehen in ihnen aber eher flüchtige Erscheinungen. Nach ihrer Ansicht wächst das Proletariat ständig um die „bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern […] teils dadurch, daß ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der Konkurrenz mit den größeren Kapitalisten erliegt, teils dadurch, daß ihre Geschicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird.“ Auch „den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft“ hat die Bourgeoisie „in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“

Diese Prognose beschreibt gewisse Entwicklungstendenzen, die seither eingetreten sind, hat sich aber keinesfalls vollständig bewahrheitet. Im Jahr 2006 schrieb ich dazu in meinem Buch „Die Diktatur der Sekretäre“: „Weniger treffend ist allerdings die Beschreibung des Proletariats. Zwar gibt es in den weniger industrialisierten Ländern Milliarden Menschen, die in der Tat auf ihr Existenzminimum beschränkt sind und oft nicht einmal das sichern können, zwar zählen mittlerweile auch in einem hochindustrialisierten Land wie der Bundesrepublik sieben Achtel der arbeitenden Bevölkerung zu den abhängig Beschäftigten, könnten also in der Terminologie des Manifests als Proletariat bezeichnet werden – aber diese Lohnabhängigen haben in ihrer Mehrzahl doch noch erheblich mehr zu verlieren als ihre Ketten. Hinzukommt, daß die Mittelstände – Kleinhändler, Handwerker, Freiberufler, Landwirte – keinesfalls wie prophezeit verschwunden sind. Dementsprechend appellieren die Politiker unserer Gegenwart am liebsten an diejenigen, die wenigstens ein Minimum an Besitz haben und nicht gerne etwas davon hergeben möchten. Ein Phänomen wie proletarisches Klassenbewußtsein dagegen wird in unserer Zeit nur bei besonderen Anlässen wahrgenommen, etwa bei Tarifauseinandersetzungen, drohendem Abbau von Arbeitsplätzen oder bei Maifeiern.“

Kaum beachtet wurde bisher, dass Marx selbst seine Analyse später revidiert hat. Im dritten Band seines Hauptwerks „Das Kapital“ redet er von den anderen „drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft.“ Dabei handelt es sich um die „Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital und die Grundeigentümer, deren respektive Einkommenquellen Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind“. In dem Zusammenhang beschreibt Marx eingehend, wie sich die Grundbesitzer ihren Anteil am Mehrwert sichern.

Engels hat in Vorworten zu späteren Ausgaben des „Manifests“ offen darüber gesprochen, wie voreilig dessen Prognosen waren. Auf die oben erwähnten Stellen ist er dabei nicht eingegangen. Das ist auch sehr verständlich, da Marx seine Überlegungen nicht abgeschlossen hatte und Engels hinlänglich mit der Aufgabe ausgelastet war, die vorhandenen Manuskripte zu halbwegs lesbaren Büchern zu verarbeiten.

Die Bourgeoisie war bei den gegebenen Machtverhältnissen jedenfalls in Deutschland keinesfalls darauf erpicht, mit dem Proletariat zusammenzuarbeiten. Sie fügte sich statt dessen bis 1945 der Hegemonie der adligen Großgrundbesitzer. Man denke auch an die konstitutionellen Monarchien Westeuropas, in denen der angesehenste Grundbesitzer gleichzeitig erbliches Staatsoberhaupt und meist auch oberster Befehlshaber des Militärs ist. Und in den USA strebt Donald Trump mit seinem ausgeprägten Interesse an Immobilien anscheinend ähnliche Verhältnisse an.

Hier liegt auch der Grund, warum die Bauern keineswegs wie im „Manifest“ vorausgesagt ins „Proletariat“ herabgesunken sind. Marx ging in seiner Analyse der Landwirtschaft davon aus, dass der Boden von Pächtern bewirtschaftet wird. Vielerorts aber arbeiten die Bauern auf eigenem Grund und Boden und können daher auch die Grundrente einstecken.

Schließlich lassen sich auch die Verhältnisse der ehemaligen Sowjetunion nach diesem Schema verstehen; hier fungierte die Partei der Bolschewiki letzten Endes als kollektiver Grundbesitzer, der nach einer Formulierung der ungarischen Autoren György Konrád und Iván Szelényi imstande war, „den Bauern den Boden wieder wegzunehmen und aus den unabhängigen Kleinproduzenten dispositive Kolchosarbeiter zu machen“ sowie „die vor der bolschewistischen Herrschaft geschaffenen Institutionen der Arbeiterselbstverwaltung, die Sowjets, zu verstaatlichen“. – Ausführlicher bin ich auf diese Thesen im Blättchen 2/2021 eingegangen.