Als am 24. Oktober 1941 ihr erster Artikel in der sieben Jahre zuvor von jüdischen Exilanten in New York gegründeten und seit Dezember 1939 wöchentlich erscheinenden Zeitung Aufbau zu lesen war, lebte Hannah Arendt gerade einmal fünf Monate in Amerika. Zu diesem Zeitpunkt war sie, wie es in Natan Sznaiders Nachwort zu ihren zwischen 1941 und 1950 publizierten Aufsätzen und Vorträgen heißt, „weder berühmt noch berüchtigt, ein jüdischer Flüchtling wie so viele andere“.
Doch bereits wenige Wochen darauf gehörte Arendt zu den populärsten und zugleich kontroversesten Autoren des Aufbau. In den folgenden vier Jahren wurden insgesamt 43, sich teilweise über mehrere Ausgaben erstreckende Artikel von ihr abgedruckt, wobei sie mehr einreichte, als am Ende veröffentlicht wurde. Sznaider charakterisiert die bis 1945 für den Aufbau verfassten Beiträge als „Hilferufe in der finsteren Zeit der Judenvernichtung“, dachte Arendt doch „öffentlich darüber nach, wie jüdisches Leben nach der Katastrophe weitergehen kann. Und das in einer Zeit, in der jüdisches Leben gerade in New York blühte.“
Zu diesem öffentlichen Nachdenken gehörte neben ihren journalistischen Arbeiten auch die Gründung der bis dato weitgehend unbeachteten sogenannten „Jungjüdischen Gruppe“. Wie die jetzt erstmals aus dem Arendt-Nachlass edierten Protokolle zeigen, ging es der im Frühjahr 1942 von Arendt und ihrem Aufbau-Kollegen, dem aus Leipzig stammenden Soziologen Josef Maier, ins Leben gerufenen Vereinigung „um eine breit angelegte Debatte über das, was eine genuin jüdische Politik sein könnte“. Der Herausgeber und Arendt-Biograph Thomas Meyer schreibt dazu: „Dabei spielte nicht zuletzt die in der gesamten jüdischen Welt diskutierte Frage nach einer eigenständigen jüdischen Armee eine bedeutende Rolle. Arendt wie Maier hatten natürlich nicht nur den alten zionistischen Kampfruf im Sinn, dass, wer als Jude angegriffen werde, als Jude sich verteidigen müsse.“
Angesichts des deutschen Vernichtungskrieges in Osteuropa sollte auch darüber diskutiert werden, was das Judentum überhaupt sein könne und wie sich die Rolle des politischen Zionismus genauer bestimmen ließ, dessen Hauptanliegen die Gründung eines Staates Israel in Palästina war. Die nunmehr vorliegenden Protokolle der „Jungjüdischen Gruppe“ dürften, obzwar nicht vollständig erhalten, wesentlich für künftige Diskussionen mit Blick auf Arendts Verhältnis zu den verschiedenen zionistischen Bewegungen sein.
Unter den insgesamt 64 Texten, die der hier angezeigte zweite Teil der auf vier Bände angelegten Ausgabe mit sämtlichen Aufsätzen, Zeitungsartikeln und sonstigen auf Deutsch verfassten oder zu ihren Lebzeiten ins Deutsche übertragenen Schriften Hannah Arendts versammelt, findet sich auch die seinerzeit nicht veröffentlichte Studie „Amerikanische Außenpolitik und Palästina“ aus dem Jahr 1944. Zusammen mit dem 1958 vom New Yorker Institute for Mediterranean Affairs initiierten Bericht „Das palästinensische Flüchtlingsproblem. Ein neuer Ansatz und ein Plan für eine Lösung“ (an dem Arendt neben 16 weiteren Autoren beteiligt war) wurde diese wichtige Arbeit bereits im letzten Jahr in einer umfangreich kommentierten Ausgabe gesondert herausgegeben.
Thomas Meyer, der bei den Recherchen für seine Arendt-Biographie ( siehe: „Ein neuer Blick auf Hannah Arendt“ in Das Blättchen, Heft 1/2024) eher durch Zufall auf diesen Text stieß, fasste den Inhalt in einem FAZ-Interview wie folgt zusammen: „Hier sieht man zumindest in Teilen eine andere Arendt, die angesichts der Vernichtungslager im Osten Europas und der allgemeinen Kriegssituation davon ausgeht, dass es keine Alternative zu einem jüdischen Staat gibt.“
Hören wir Arendt selbst: „Der ganze Nahe Osten, ja das ganze Mittelmeergebiet ist in Gefahr, zu dem künftigen Pulverfaß der Welt zu werden. Kooperation im Sinne der gemeinsamen Herrschaft über ölarme Völker würde bestenfalls die Erfindungsgabe der betroffenen Völker stärken, jedenfalls aber mit dauernden Revolten und Intrigen zu rechnen haben. Freie Konkurrenz der großen Mächte um die Herrschaft in diesen Gebieten würde bald zu den erstaunlichsten und gefährlichsten Bündnissen und Querverbindungen führen. Nicht nur die Juden, nicht nur die Araber, alle Völker des Mittelmeers würden im Lichte einer solchen Politik bald als lästig, hinderlich, als nuisances [als etwas, das nervt – M.I.] erscheinen.“ Trotz solch einer Ausgangslage hielt Arendt an der Hoffnung auf eine einvernehmliche Lösung fest: „Denn der arabisch-jüdische Konflikt kann und wird sich lösen lassen innerhalb des Rahmens einer freundschaftlichen Kooperation aller Mittelmeervölker, die um ihrer politischen Unabhängigkeit und freien ökonomischen Entwicklung willen ohnehin auf gute nachbarschaftliche Verhältnisse und vielleicht sogar auf eine Federation angewiesen sein werden.“
Hannah Arendts Beiträge zu Fragen des Zionismus regen auch nach so langer Zeit noch immer zum Nachdenken an. Bieten sie doch Einblicke in seit Jahrzehnten geführte Diskussionen, deren grundsätzliche Inhalte heute weder bei Historikern, die sich mit der Staatsgründung Israels und den damit einhergehenden Konflikten und Kriegen beschäftigen, noch bei Analytikern möglicher Friedensordnungen in Israel und Palästina die notwendige Beachtung finden.
Hannah Arendt: Vorträge und Aufsätze 1941–1950. Hrsg. von Thomas Meyer mit einem Nachwort von Natan Sznaider, Piper Verlag, München 2025, 672 Seiten, 20,00 Euro.
Hannah Arendt: Über Palästina. Hrsg. von Thomas Meyer, Piper Verlag, München 2024, 272 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Hannah Arendt, Israel, Mathias Iven, Palästina, Thomas Meyer, Zionismus