27. Jahrgang | Nummer 26 | 16. Dezember 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „100 Tage“ – Theater im Palais / „Hals Maul, Kassandra“ – Deutsches Theater / Spaß zum Jahreswechsel – Showtime im Admiralspalast

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Theater im Palais: Charme als Pille gegen Depression
Dr. Magnus Schreiber hasst die Menschheit. Vornehm gesagt, die Menschen nerven ihn, was besonders fatal ist, weil: Der Herr Doktor (Carl Martin Spengler), stets korrekt in Tweed und mit Fliege, ist Psychotherapeut. Ein Schicksalsschlag, der Tod seiner Lebensliebe, setzte ihm zu – und die einschlägig erlernten Therapiemöglichkeiten außer Kraft. Hinzu kommt das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein. Nicht mehr zu passen in die Gegenwart mit all dem Digitalen, dem neuen Sprechen, den vermeintlich umgestürzten Wertvorstellungen etc. So hängt denn der 66-Jährige mürrisch in seiner Psycho-Praxis und sitzt dort die letzten 100 Tage ab bis zur Pensionierung.

Da freilich stört die neue Sprechstundenhilfe Nelly Montagu (Ira Theofanidis), eine gelernte Reisebürokauffrau mit Ambitionen (ein Buch schreiben!), aber auch mit Heimsuchungen: es quälen depressive Schübe und schwere Daseinsverunsicherungen. Zugleich jedoch ist sie offen für das Leben um sich herum, neugierig auf Menschen, empathisch, witzig – und schaut fesch aus. In 100 Tagen, so ihr Ziel, will sie (deshalb Psychopraxis statt Reisebüro) ihr Selbstwertgefühl reparieren. Und obendrein Material sammeln für ihr Buch.

Das ist die so charmante wie ergiebige (auch ein bisschen klischeegefärbte) Konstellation der kammermusikalischen Anti-Depressions-und Emanzipations-Komödie „100 Tage“ von Alina Lieske (Text, Regie, Kompositionen zusammen mit Matthias Behrsing). Denn selbstverständlich kommt es zu durchaus traurigen, auch bösen, frech vorlauten und verletzenden, aber auch albernen und sehr anrührenden Kollisionen zwischen den beiden gegensätzlichen Figuren. Die geschickt verbundenen Lebens- und Menschenskizzen werden musikalisch kontrapunktiert durch Matthias Behrsing am Klavier sowie die gewitzt gereimten Gesangsnummern im Musical-Gestus. Begeisternd das Können der faszinierenden Theofanidis im gesanglichen Ausdruck aber auch im Spiel. Schöner Kontrast zum sonoren Bass Spenglers, des so verdienstvollen Haudegens des Hauses. Ein kleiner feiner, heiterer und weher Abend über des Lebens Ernst und seine seltsam komischen Hintertüren.

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DT: Links und rechts der Mauern
„Wo ich bin will ich nicht bleiben, aber die ich liebe will ich nicht verlassen, aber die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber wo ich lebe da will ich nicht sterben, aber wo ich sterbe da will ich nicht hin: Bleiben will ich wo ich nie gewesen bin.“

Harte Worte, herzzerreißend; alles sagend über Thomas Brasch. Er selbst hat sie aus sich herausgepresst. Als Credo seines Daseins; damals im geteilten deutschen Land und in der bis heute gespaltenen Welt.

Thomas Brasch (1945–2011), ein Kind Kommunismus gläubiger Emigranten. Der Vater, sein gestrenger Erzieher, stieg auf in die Partei-Elite. Der Sohn, der nichts als Dichter werden will, reibt sich, eingemauert von Verboten, wund am Vater, am Staat, an Wirklichkeiten, die nicht werden wollen wie geträumt. Die Fahnen klirren in eisigem Wind. Die Folter seines Lebens.

Sie spricht aus allen in allen seinen Werken: Den hitzigen, bitterkalten, sarkastisch zugespitzten Dramen, den so qualvoll schönen Gedichten. Noch einmal füllen Braschs wuchtige, auch seelenzarte Worte jetzt das Deutsche Theater, das mit seinem Namen und seiner Geschichte so gut passt auf diesen Denker, Dissidenten, Anarchisten, Weltenwechsler, Schmerzensmann.

„Halts Maul, Kassandra!“ ist das Motto einer von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner komponierten und inszenierten Thomas-Brasch-Hommage, die mit spielerisch leichter Hand, mit Witz und der gehörigen Portion Pathos Brasch-Texte – einer literarisch-politischen Revue gemäß – verwirbelt, gelegentlich Video-Dokumentenschnipsel einstreut. Und musikalisch kontrapunktiert ist (Jan Stolterfoht, Tilmann Dehnhard) mit Klassischem, Jazzigem oder Rio Reiser: „Macht kaputt was euch kaputt macht“.

So wird ein schwieriges Künstlerleben (Dramatiker, Poet. Filmemacher, Shakespeare-Übersetzer) auch durch das großartige Ensemble eindrucksvoll skizziert – Mareike Beykirch, Anja Schneider, Felix Goeser, Jürgen Kuttner, Benjamin Lillie, Peter René Lüdicke, Jörg Pose. Wobei – kunstvolles Arrangement – im Historischen Gegenwärtiges erregend aufscheint. Die Vergangenheit ist nicht vergangen.

Dazu eine frisch frei erfundene Szene mit einem vier Jahrzehnte alten Text aus der Brasch-Farce „Herr Geiler“. Da ruft Jörg Pose in der grotesken Rolle der DDR als gespenstisch Untote mit gebrochen vorwurfsvoller Stimme: „Erkennst du mich noch immer nicht. Ich bin die DDR. Wieder hast du die Tür vor mir verschlossen und wieder wird ein Schlag von mir sie öffnen. Sprengt die Tür. Wieder hast du die Fenster vor mir verriegelt, damit du dich im Dämmerlicht von der Gegenwart ausschließen und ungestört einschlafen kannst.“ Der Schauspieler, mit seinem vom Alter zerfurchten nackten Oberkörper, trägt schwer an Riesenflügeln auf dem Rücken. Ein elender Engel, immer wieder versucht, aufzusteigen. Vergeblich. Keuchend knallt er kaputt zurück auf steinharte Erde.

Oder das Nachstellen eines signifikanten Moments aus Georg Stefan Trollers Brasch-Porträt „Personenbeschreibung“: Felix Goeser in der Rolle des österreichischen TV-Journalisten Troller, der 1977 das just in den Westen gewechselte Paar Brasch–Katharina Thalbach (Mareike Beykirch, Anja Schneider) interviewt und skandalträchtig dissidentisches DDR-Bashing erwartet. Doch die beiden, provokant auf einem Lotterbett miteinander turtelnd, verweigern sich, flüstern kchernd bloß Unverständliches.

Und was ist mit Kassandras Maul? Ein Brasch-Zitat aus dem Texte-Mix „Kargo“, 1977, das gegen Zukunftsängste schießt, das unermüdlich „Weitermachen“ einfordert, so aussichtslos es auch scheinen mag. „Wie Sisyphus“, kommentiert Kuttner als Moderator, der unterhaltsam pointiert führt durch Braschs Texte und Welten und deutsch-deutsche Geschichte(n).

Brasch, ein Hellsichtiger und Wahnsinniger, ein Wilder und Furchtsamer, Feinsinnniger, ein Rocker, Frauenheld, Verschwender, dieser Kerl fand nirgends ein Zuhause, weder links noch rechts der Mauer. Höchstens obendrauf. Oder in Shakespeares Schädel. Als kongenialer Übersetzer fand er sowohl betörend innige als auch beklemmend kriegerische Worte. Sah sich als „Foul“. Nannte das notorisch Närrische im Menschen „irrewirr“.

Endlich ein großer starker Nachdenk-Abend im DT.

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Heißer Tipp zum Jahreswechsel
Die mitreißende, nebenbei auch informative historische Zeitreise-Show „Berlin Berlin“ ist wieder in der Stadt. Und präsentiert im Admiralspalast ein buntschillerndes Angebot fürs fein Ausgehen zum Jahresende. Oder Jahresanfang – bis in den Februar. Da surrt eine elegante Gute-Laune-Maschine, da schwirren die Hingucker nur so über die Bühne. Tolle Sache für Berlinbesucher, für großen Familienausflug. – Frohes Fest und Prosit Neujahr!