Um eine wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden, änderten die Zentralbanken während der großen Finanzkrise 2007/2008 weltweit abrupt ihre Strategie des knappen Geldes und fluteten die Finanzmärkte mit Zentralbankgeld. Damit retteten sie nicht nur zahlreiche Banken und andere Finanzmarktakteure vor dem drohenden Bankrott, sondern auch viele Unternehmen und ganze Staaten. So sehr diese Aktion einerseits als kurzfristige Maßnahme durchaus volkswirtschaftlich geboten erschien, so verstieß sie andererseits doch gegen die Regeln einer soliden Geldpolitik. Die Antwort konnte deshalb nur in einer baldmöglichen Korrektur und der Rückkehr zu einer Politik des knappen Geldes bestehen. Dazu aber kam es nicht. Eine Krise jagte die nächste und 2015 gingen die Zentralbanken unter dem Motto Quantitative Easing sogar zu einer noch stärkeren Flutung der Geldkanäle über. 2020 schließlich folgten Corona-Krise und Lockdown, wodurch wiederum viele Unternehmen, Banken und Staaten in Not gerieten und durch die erneute Zurverfügungstellung billigen Geldes gerettet werden mussten.
Die Quittung dafür kam prompt, indem 2022 und 2023 überall die Preise spürbar stiegen. Auch wenn sich der Anstieg des Preisniveaus ursächlich nicht direkt auf die Geldpolitik zurückführen lässt, so bot diese doch den Rahmen dafür, dass die Inflation zurückkehren konnte. Eine Politik des knappen Geldes hätte dies, wenn nicht verhindert, so doch zumindest erschwert.
Inzwischen sind zwei Jahre vergangen und die Situation ist wieder eine andere: Die Inflation ist geringer geworden und die Volkswirtschaften der meisten Euro-Länder befinden sich im Zustand einer konjunkturellen Erholung, nur in Deutschland stagniert die Wirtschaft. Die Europäische Zentralbank (EZB) hielt es daher für angemessen, im Juni 2024 den Grad der geldpolitischen Straffung in mehreren Schritten zu reduzieren. Begründet wurde die Zinssenkung vor allem mit den sinkenden Inflationsdaten und den nur noch moderaten Inflationsaussichten. So wird für 2024 im Euroraum eine Inflationsrate von durchschnittlich 2,5 Prozent erwartet, für 2025 eine Rate von 2,2 Prozent und für 2026 eine von 1,9 Prozent. Für die Zeit um die Jahreswende 2024/25 geht die EZB jedoch von einer vorübergehend noch einmal leicht ansteigenden Inflation aus.
Obwohl diese Daten eher ein geldpolitisches Abwarten nahelegen, folgte der Entscheidung vom Juni im Oktober eine weitere Zinssenkung und im Dezember soll noch eine Reduzierung der Leitzinsen erfolgen. Für 2025 werden drei Zinssenkungen um insgesamt 75 Basispunkte (0,75 Prozent) in Aussicht gestellt. Damit verbunden ist aber nicht nur eine Verbilligung der Kredite und die Stimulierung der Investitionsbereitschaft, sondern auch eine erneute Ausdehnung der Geldmenge, womit die Unsicherheit in Bezug auf die Stabilität des Finanzsystems und die Inflationserwartung wieder zunehmen dürfte.
Mit den Schulden wachsen bekanntermaßen die Vermögen. Das heißt, nicht nur Unternehmen und Staaten, die eine hohe Kreditbelastung aufweisen, sind Nutznießer und Gewinner der Niedrigzinspolitik, sondern auch die Vermögenden und Superreichen. Dies zum einen, weil die Finanzmärkte auf die Zinssenkung mit einem Boom und einem Kursfeuerwerk reagieren. Da rund 70 Prozent der Aktien und börsennotierten Wertpapiere von dem reichsten einen Prozent der Privathaushalte gehalten werden, vergrößert sich „ganz wie von selbst“ deren Reichtum. Zum anderen aber auch, weil Produktivkapital und Immobilien auf die mittelfristig wieder anziehende Inflation mit einem Wertzuwachs reagieren. Da der Reichtum der vermögenden Oberschicht neben Aktien und anderen Effekten vor allem aus Produktivkapital und Immobilien besteht, profitieren die Vermögenden von der Zinssenkungspolitik. Demgegenüber sind die Sparer, also die Besitzer nominaler Geldanlagen wie Festgeld und Sparbriefe, eindeutig die Verlierer sinkender Zinsen. Denn fallen die Guthabenzinsen unter die Inflationsrate, so ist ihr Realzins negativ.
Dies gilt grundsätzlich und ohne Ausnahme. Das belegen aktuell die Daten des Sozialberichts 2024 zur Verteilung der Nettovermögen in Deutschland: So verzeichnen Privathaushalte mit (entschuldetem) Immobilienvermögen gegenüber Mieterhaushalten in Deutschland ein weit überdurchschnittlich hohes Nettovermögen. 2021 lag es im Durchschnitt bei 670.000 Euro, während Mieterhaushalte nur auf gut ein Zehntel dieser Größe, auf 76.700 Euro, kamen. Zieht man für den Vergleich alternativ den Median, also den statistischen Mittelwert, heran, so verschärft sich diese Relation „auf ein Verhältnis von nur noch vier Prozent“, von 16.200 Euro gegenüber 396.100 Euro. Das ist das 25-fache! Und das, obwohl Multimillionäre und Milliardäre in diese Rechnung nicht einbezogen sind und die Daten die wahren Verhältnisse ohnehin eher unter- als überzeichnen. – Das Beispiel zeigt, wie die Geldpolitik, indem sie Kredite verbilligt und Sachvermögen aufwertet, angesparte Nominalvermögen aber entwertet, erheblich zur Vermögenspolarisierung und zur sozialen Spaltung der Gesellschaft beiträgt.
Den hier aufgezeigten ökonomischen Effekten ließe sich dadurch begegnen, dass der Staat eine die exorbitanten Vermögenszuwächse begrenzende oder korrigierende Finanzpolitik betreibt. Zum Beispiel durch die Aktivierung der Vermögensteuer, eine Novellierung der Erbschaftsteuer oder eine die Vermögenseinkünfte stärker berücksichtigende progressive Einkommensteuer. Auch der jetzt wieder im Feuer der Kritik der Reichen und Superreichen stehende Solidaritätszuschlag ist dafür ein durchaus taugliches Mittel.
Die Zeichen in der Politik weisen jedoch in eine andere Richtung, so dass die Ungleichheit in der Gesellschaft weiter zunehmen und sich verfestigen wird. Die EZB verfolgt mit ihrer Geldpolitik eigentlich andere Ziele und Aufgaben als die weitere Bereicherung der Vermögenden. Durch die verteilungspolitischen Wirkungen ihrer Geldpolitik trägt sie aber dazu bei, die Entwicklung in diese Richtung voranzutreiben.
Schlagwörter: Finanzpolitik, Geldpolitik, Inflation, Rezession, Ulrich Busch