Auf den Tischen Flaschen und Gläser, Club- und Karo-Schachteln, Klubsessel dazwischen, eine Wandzeitung mit den Konterfeis der Besten, auf der gegenüberliegenden Bühnenseite die Losung „Plane mit, arbeite mit, regiere mit“. Es bedarf der Wimpelkette nicht, die sich über die Wandzeitung schwingt: Die Kantine eines volkseigenen Betriebes ist unschwer als solche zu erkennen, und es muss augenscheinlich schwer gefeiert worden sein … Das Bühnenbild für jenes Stück („Straße der Besten. Rock und Pop von City bis Silly“), das in zwei Abenden Premiere feiern sollte, ließ man – gewiss absichtsvoll – stehen. Irgendwie passt die Kulisse zum Abend, der eine Mischung aus kontroverser Produktionsberatung und konstruktiver Parteiversammlung ist. Dort, auf der Bühne, reden nämlich der Verleger der Berliner Zeitung, ein bekennender Ostdeutscher, und der westdeutsche Intendant des Görlitzer Gerhart-Hauptmann-Theaters. Eigentlich sollte dort der Chefredakteur des Spiegels sitzen, aber der scheute entweder die weite Reise in Deutschlands östlichste Stadt. Oder er war einfach zu feige, der Einladung Holger Friedrichs zum öffentlichen Disput über „medienethische Standards“ zu folgen.
Aber vielleicht der Reihe nach. Der von Springer gefeuerte Chefredakteur der BILD hatte Friedrich vor geraumer Zeit interne Mails zugespielt in der Erwartung, dass dessen Zeitung sie veröffentlicht. Die Redaktion beteiligte sich jedoch nicht an diesem privaten Rachefeldzug und informierte stattdessen den ehemaligen Arbeitgeber des Denunzianten. Die Sache wurde bekannt, worauf unisono die sogenannten Leitmedien Friedrich des Verstoßes gegen journalistische Grundsätze ziehen, nämlich dass er Quellen, die heilig und heimlich bleiben müssten, offenbart habe. Die kollektive Empörung über die vermeintliche Verletzung des Quellenschutzes war nur die höchst heuchlerische Fassade für das dahinter liegende oder stehende Problem, dem die Pharisäer beizukommen versuchten. Friedrich war in die Phalanx westdeutscher Medienhäuser eingebrochen. Er besaß seit 2019 als einziger Ostdeutscher einen Zeitungsverlag, mithin also auch das einzige von allen ehemaligen ostdeutschen Verlagshäusern, denn auch diese Unternehmungen befinden sich ausnahmslos in westdeutscher Hand. Vielleicht hätte man den Konkurrenten mit dem ostdeutschen Stallgeruch irgendwann sogar hingenommen, wenn er sich denn nur angepasst und mit der Rolle eines lästigen „Wettbewerbers“ beschieden hätte. Doch der gelernte ostberliner Schlosser und international erfolgreiche Unternehmer Friedrich vom Jahrgang 1966 hatte nicht nur Markwirtschaft, sondern auch Marx begriffen. Und eben dies machte ihn mehr als nur lästig, weshalb er geschlachtet werden sollte. Wer das System infrage stellt, wird selbst abgeschafft – wer nicht mit den Wölfen heult, wird erledigt. Nachdem die erste Salve mit dem Stasi-Vorwurf nicht funktioniert hatte, feuerte man China-Böller und Putin-Versteher-Granaten (die ukrainische Botschaft forderte beispielsweise die Entlassung von fünf namentlich benannten Redakteuren). Der Spiegel schnüffelte monatelang hinter Friedrich her, um ihn nach der bewährten Methode Knieschuss-Bauchschuss-Kopfschuss zur Strecke zu bringen, was zu eben jener Einladung nach Görlitz geführt hatte. Die frühere Spiegel-Chefredaktion hatte vor zwei Jahren nach einer denunziatorischen Breitseite gegen das Berliner Blatt noch die Souveränität besessen, einen Gegenartikel zuzulassen. Die jetzige hingegen besaß diesen Schneid nicht. Stattdessen landete die Sache vorm Landgericht München. Und ein Stuhl in Görlitz blieb frei …
Friedrich, und das ist der eigentliche Grund des Feldzugs der Medienmeute, ist sich der Macht bewusst, die Medien besitzen. Er selbst nutzt sie mit seiner Zeitung – nicht um die Demokratie zu stürzen („Ich lebe gern in Westeuropa“), sondern um zu verhindern, dass sie vor die Hunde geht. Die Rettung der Demokratie, der Meinungsvielfalt, des öffentlichen Austauschs von Pro und Contra, wäre die eigentlich Aufgabe der Journalisten. Doch die direkte und indirekte Nähe der sie ernährenden Medienhäuser zu den Mächtigen macht sie zu deren Komplizen, zum Teil der politischen Klasse, deren Glaubwürdigkeit aus verschiedenen Gründen schwindet. Friedrich fordert darum eine Reform der Medienbranche, die Überwindung des in Jahrzehnten gewachsenen Systems wechselseitiger Abhängigkeit von Politik und Medien. Ein öffentlicher Diskurs über diese Form der Korruption wäre ein erster notwendiger Schritt.
Wie tief man bereits gesunken oder wie groß die Feigheit inzwischen ist, sieht man insbesondere am Umgang mit den Kriegen in der Ukraine und in Nahost. Bereits die Forderung, über die Möglichkeit des Friedens nachzudenken, gilt als Provokation und wird öffentlich geschmäht. Keine ukrainische Mutter, keine russische Mutter, keine palästinensische und keine israelische Mutter will, dass ihr Sohn stirbt, sagt Friedrich und bekommt dafür Beifall – was doch eine Binse ist. Öffentlich ausgesprochen jedoch ist es dem Mainstream bereits eine unzulässige Dreistigkeit, eine Kriegserklärung an den vermeintlichen Common Sense. Selbst Bertha von Suttners Appell „Die Waffen nieder!“, der draußen am Theater hängt, hat dem Hause manchen Ärger eingetragen, sagte Daniel Morgenroth, der 1984 in Coburg geboren wurde und seit drei Jahren hier Intendant ist. (Der, nebenbei, noch ganz andere Sorgen hat. „Unser größtes Problem hier ist nicht die AfD, sondern Geld“, bekennt er, überall regiert in der Kultur der Rotstift. Auch sein Theater sei angehalten, Drittmittel und Sponsoren für Events zu werben. Darum schlug er vor, wie im Sport die Namensrechte des Gerhart-Hauptmann-Theaters zu verkaufen, etwa an Coca-Cola. Eine tatsächliche und bewusste Provokation, natürlich.)
Morgenroth wehrt sich gegen das westdeutsche Narrativ, alle AfD-Wähler seien Nazis, und Friedrich ermutigt seine Leserschaft, selbstbewusst ihre ostdeutschen Erfahrungen („Wir haben den Westdeutschen einen Systemwechsel voraus“) in eine Welt des Umbruchs einzubringen, während Deutschland in Stagnation verharrt. Beide wollen an diesem Abend einen öffentlichen Gedankenaustausch darüber führen. Friedrichs täglich in der Berliner Zeitung nachzulesendes Bedürfnis, die ostdeutsche Vergangenheit in ihrer Vielfalt ehrlich und vorurteilsfrei zu behandeln, leistet dazu gewiss einen spürbaren Beitrag. Er will „auf Augenhöhe“, ein von ihm häufig benutzter Begriff, mit den westdeutschen Agitatoren verhandeln, eine „ebenenkonforme Diskussion“ mit ihnen führen. Seine offensiv vertretene Forderung, alle gesellschaftlichen Themen in kontroverser Debatte zu erörtern und diese nicht mit Totschlagargumenten und Ignoranz zu verhindern, macht ihn zum Störfaktor in der selbstsicheren politischen Klasse, die sich dem Drang nach Veränderung störrisch und dumm widersetzt. Deshalb wird Friedrich weder in Talkshows eingeladen noch nimmt, wie erlebt, der Spiegel-Chefredakteur Einladungen nach Görlitz an. Auf der anderen Seite: Das bundesweite Interesse an der Zeitung wächst messbar. Wegen ihrer Nonkonformität und wegen des überzeugenden Bemühens, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.
Soweit zur Vorgeschichte des mehr als nur unterhaltsamen Abends im vollen Görlitzer Theater. Der Verlauf der launigen, höchst informativen Debatte vor und mit Publikum muss hier nicht repetiert werden, man kann alles im Internet ansehen. Vermutlich waren nicht deshalb so viele im Theater erschienen, weil der Eintritt frei war. Das auffällige Interesse am Thema – angekündigt mit „Medienfreiheit, Toleranz gegenüber anderen Meinungen und wachsende Polarisierung in der Presse“ – beschäftigt immer mehr Menschen hierzulande als Medienmacher meinen. Das lässt hoffen. Es kamen zur Verständigung nicht nur Görlitzer in den fernöstlichen Musentempel, sondern auch Optimisten aus der Umgebung, aus Dresden und sogar Berlin, wie in der Fragerunde deutlich wurde. Auch der Oberbürgermeister von Kamenz war da. Er lud Friedrich in die Lessingstadt ein, das Thema zu erörtern. Wo wenn denn nicht dort, wo der Dichter der Aufklärung vor nunmehr fast dreihundert Jahren zur Welt kam, und wann, wenn nicht jetzt? Das vermeintliche Sturmgeschütz der Demokratie aus Hamburg muss auch nicht nach Kamenz kommen, es gehört abgerüstet. Das offene, ehrliche Wort ist Waffe genug.
Schlagwörter: Berliner Zeitung, Daniel Morgenroth, Görlitz, Holger Friedrich, Jutta Grieser, Spiegel