Rein äußerlich ist am Willy-Brandt-Platz zu Frankfurt am Main alles beim Alten: links die Glasfassade des Schauspielhauses, rechts die der Oper. Die Skyline im Rücken. Die Neubauambitionen schweben in den Regionen der politischen Unwägbarkeiten irgendwo in unbestimmter Höhe – mehr als Drohung denn als Verheißung – oben drüber.
Die aktuelle Spielzeit eröffnen beide Häuser in gewohnter baulicher Hülle. Und durchaus schwergewichtig: Das Schauspiel behauptet, mit Faust I und II an einem Abend zu starten und liefert einen Goethe-Verschnitt zwischen Show und Stichwortzettel.
Das gerade wieder von der Opernwelt zum Opernhaus des Jahres gekürte, von Bernd Loebe geführte Haus nebenan allerdings wird mit Hans-Werner Henzes Kleist-Oper „Der Prinz von Homburg“ seinem Ruf als Referenzbühne für das ganze Land gerecht.
Jeder, der für „Faust I und II“ vier Stunden veranschlagt, muss streichen. Meistens geht das zu Lasten des enzyklopädischen II. Teils. In Frankfurt ist es umgekehrt. Die im Fack-ju-Göhte-Zeitalter gerade Herrschenden, müssen sich zwar die Ausweisung von Faust aus dem Bildungskanon ankreiden lassen. Aber noch kann ein Großteil des Publikums Satzanfänge wie Habe-nun-ach, Vom-Eise-befreit, Schönes-Fräulein-darf-ich’s-wagen oder Mit-diesem-Trank-im-Leibe aus dem Kopf mindestens verdoppeln.
Jan Christoph Gockel macht aus dem ganzen „Faust I“ eine halbstündige Geisterbahnfahrt. Im wortwörtlichen Sinne eines aufwändigen Bühnenbildes, das in den leeren Bühnenraum geschoben wird und dort mit leichten Störungen (das Deutsche-Bahn-Syndrom wirkt überall) sein Eigenleben beisteuert.
Das bürgerliche Menschenbildexempel Heinrich Faust ist hier eine hässliche alte Gliederpuppe. Sie liegt rum, auf der Bühne und vor der Tür des Theaters. Sie bleibt es auch, degradiert ihr junges Alter ego Torsten Flassig über weite Strecken zum Puppenführer. Und behindert ihn beim Sprechen. Mephisto hat zwar mit seinem zynisch klugen Paktieren mit der Wirklichkeit schon bei Goethe die besseren Karten, aber dank Wolfram Koch ist er nicht nur gleich noch der Herr im Himmel bei der als Monolog gespielten Wette, sondern hienieden auch der Herr im Hause. Er spricht am besten, spielt am besten und überhaupt. Dass er als Putzfrau auf der leeren Bühne anfängt, mag sogar ein Insiderwitz für die Opernfreunde sein, lässt doch die legendäre Neuenfels-Aida grüßen. Absicht? Wohl eher nicht.
Hier hat ein Regieteam das Kästchen mit den gängigsten Zitaten in die Höhe geworfen und beim Einsammeln willkürlich neu sortiert. Wenn dieser Mephisto nah am Text ist, oder übers Holpern der Maschinerie hinwegimprovisiert, gar im Loriot-Habitus einmal dazwischenfunkt und mit dem Faust-Buch in der Hand aufkreuzt oder auch, wenn Lotte Schubert irgendwann im zweiten Teil die Gretchentragödie zusammenfasst, dann strahlt der Text, leuchtet die Bühne.
Und sonst? Ist es eine eigensinnig neukombinierte Show aus Bruchstücken, die um eine Faustbehauptung schwirren, in der gerade der irgendwie abhandengekommen ist. Wohl, weil der Kaiser (warum auch immer) von Helena-Darstellerin Melanie Straub gespielt wird, ist der Kanzler Christoph Pütthoff dann auch mal nackt. Immerhin mal der Versuch einer hinzugefügten selbstironischen Pointe, die über die abwesenden Versschmuckstücke des Herrn von Goethe nur mager hinwegtröstet.
Apropos Peter Hacks, von dessen Goethe-Stück diese Wendung inspiriert ist: von dem stammt das Diktum, dass man Klassiker verändern dürfe, wenn man sie verbessert. Wie Recht er hat, führt dieser Abend vor, der unterm eigenen Ehrgeiz immer wieder zusammenbricht. Zum Glück ist dann meistens der Teufel zur Stelle.
Der Eröffnungsabend in der Oper eine Woche später brauchte keinerlei teuflische Hilfestellung. Hier geht es zwar am Ende „In Staub mit den Feinden Brandenburgs“ – dafür aber auf die leuchtenden Höhen der Begegnung eines literarischen Genies des 19. mit einem musikalischen des 20. Jahrhunderts. Wobei mit Ingeborg Bachman auch eine Große ihres Faches Heinrich von Kleists Drama auf dem Weg in eine Libretto-Vorlage für Hans-Werner Henzes kompositorische Kreativität begleitet hat. Und sie hat das gut gemacht, denn auch in der Oper gehört Kleists Wortmusik im Grunde zum Orchestersatz. Selten kann man sich (nach dem „Rosenkavalier“) an einer so harmonischen Melange aus Wort und Musik delektieren, wie bei diesem Prinzen.
Jens-Daniel Herzog (Regie) und Johannes Schütz (Ausstattung) haben für den entsprechenden hochästhetischen Rahmen gesorgt und machen so die Klemme, in die sich der Kriegsheld mit dem Hang zum Träumen manövriert, nachvollziehbar. Weil er in Gedanken bei seiner angebeteten Natalie ist, als es zur Befehlsausgabe vor der Schlacht auch auf seine Truppen bezogen ziemlich konkret wird, hört er nur halb hin. Er handelt dann in der Schlacht nach Gutdünken gegen den Befehl. Und hat Erfolg. Er landet aber wegen seiner Subordination vor dem Kriegsgericht und wird verurteilt. Begnadigt wird er erst, als er sein Fehlverhalten einsieht. Obwohl die Bühnenästhetik sparsam aber atmosphärisch stilisiert ist, greift das Erschrecken, das den Prinzen beim Anblick seines offenen Grabes ergreift, über. Und berührt.
Zudem sorgt Takeshi Moriuchi am Pult des Opern- und Museumsorchesters für den packende Duktus einer höchst bühnentauglichen Musik und trägt die Protagonisten gleichsam auf Händen. Allen voran Domen Križaj, der die Wandlung des Prinzen glaubhaft vermittelt, Yves Saelens als weise lebensklugen Kurfürsten und Magdalena Hinterdobler als temperamentvolle Prinzessin Natalie. Aus dem Offizierscorps, dessen Kostümierung an die Ästhetik der Bildwelten von Neo Rauch erinnert, ragt Magnus Dietrich als Prinzenfreund Hohenzollern mit seiner Vitalität heraus.
Eine Gemeinsamkeit haben die so unterschiedlichen Dichter-Genies Goethe und Kleist – ihre Werke wurden zu Vorlagen für die Oper. Bei Goethe ist das eh von „Werther“ bis „Faust“ klar. Aber auch Kleist kann da mithalten. Nicht nur Dank Hans-Werner Henze. Othmar Schoeck hat aus „Penthesilea“ eine Oper gemacht, der gleich neben der „Elektra“ von Richard Strauss ein Platz im Opernolymp zukommt. Aber das ist eine andere Geschichte.
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