Nach den Landtagswahlen schießen die Deutungen, warum der „Osten“ so gewählt hat wie er gewählt hat, ins Kraut. Eine liefert der Philosoph Richard David Precht; es spiele immer noch eine große Portion Enttäuschung mit: Die Ernüchterung ob der Wiedervereinigung sei groß, da das Deutschland, das man aufgegeben habe zugunsten des anderen, ziemlich abweichend gewesen sei von dem, das man hinter sich ließ. In der DDR sei noch das alte Deutschland prägend geblieben; Autoritäten hätten gegolten, der Obrigkeitsstaat, Law and Order seien bestimmende Größen und das Leben weitgehend geregelt gewesen, Ausländer hätte es wenige gegeben … Er, Precht, fahre häufig „von Berlin mit dem Fahrrad nach Osten […] und dann hat man plötzlich das Gefühl, man macht eine Zeitreise, man ist wieder irgendwo in einem alten Deutschland; eine Mischung aus Preußen und DDR, so dass man das Gefühl hat, hier ist irgendwie noch so eine deutsche Kontinuität übrig geblieben – indem, was die Leute essen, in der Ausflugsgastronomie, indem, wie die Leute reden, wie es da aussieht, sehr oft noch wilhelminisch“.
Ich will über den sachlichen Gehalt dieser Beobachtungen nicht richten; sie sind mir jedoch Anlass zur Frage: War die DDR das wahre Deutschland?
Dass die beiden Deutschlands sich unterschiedlich entwickelten, entwickeln mussten, findet seine Begründung schon darin, dass sie jeweils eine exponierte Stellung im Lager der ideologischen und weltpolitischen Antipoden des Kalten Krieges einnahmen; sie lagen an der „Trennlinie der Systeme“. Sie gingen – unter Kuratel der jeweiligen Sieger- und Besatzungsmächte – „Sonderwege“; die alte Bundesrepublik hin zu einer postnationalen Demokratie, und auch der forcierte „proletarische Internationalismus“ der DDR war ein Sonderweg. Während in der DDR unter dem Mantel des verordneten Antifaschismus konventionelles, deutsch-nationales Denken überdauerte, ließ die Bundesrepublik deutliche, an Unterlassung grenzende Versäumnisse beim Umgang mit der NS-Vergangenheit zu.
Wie verlief unter diesen Kautelen die politische und soziokulturelle Entwicklung in beiden Staaten? Im Osten rieben sich anfangs zwei politische Linien – eine zielte auf eine Politik der nationalen Einheit, die zweite auf die legitimatorische Absicherung des Teilungsprozesses mit dem strategischen Ziel, einen sozialistischen Staat zu schaffen. Das Selbstverständnis dieses jungen Staates – wie er sich gerade im Verhältnis zum Westen darstellen musste – konnte nur ein „deutsches“, das heißt in einer nationalen Tradition stehendes sein. Folglich verstand sich die Verfassung vom Mai 1949 als eine gesamtdeutsche. Auch in der Fassung von 1968 wird die DDR noch ein „sozialistischer Staat deutscher Nation“ genannt; erst in der Novelle von 1974 taucht der Begriff „deutsche Nation“ nicht mehr auf. Es sollte radikal mit der Vergangenheit gebrochen werden, um eine sozialistische Werte- und Gesellschaftsordnung aufzubauen. – Die BRD und namentlich Adenauer, der den Deutschen misstraute, setzten auf die Integration in den Westen („Westbindung“), die Vorrang erhielt gegenüber einer Vereinigung Deutschlands.
Der Versuch der DDR-Führung, auf dem Umweg über die Auslöschung des (gesamt)deutschen Bewusstseins zu einem Staatsvolk mit eigener Identität zu kommen, scheiterte jedoch an der Tatsache der gespaltenen Nation. Die „andere“ Nation „funkte“ permanent – und das ist wörtlich zu nehmen – in die DDR hinein. War es anfangs nur das Radio, so kam später das Fernsehen hinzu; beide Medien wurden gezielt eingesetzt, um politisch auf die Menschen in der DDR einzuwirken. Und das gelang – das Erhardsche „Wirtschaftswunder“ einerseits und der im Zuge einer „Amerikanisierung“ stattfindende kulturelle Import aus den USA andererseits übten eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf viele Deutsche aus. Ab Mitte der 1950er Jahre stieg in der BRD die Kaufkraft; der Konsum wurde zum Rausch – Möbel, Autos, Elektrogeräte, Reisen. Auch durch damals noch mögliche Besuche von DDR-Bürgern im „Westen“ wurden diese zu Zeugen und Bewunderern dieses Aufschwungs. Im Toast Hawaii, der auf der Terrasse eines Bungalows, in einer Hollywood-Schaukel schwingend, verzehrt wurde – alles Chiffren des American Way of Life –, trafen sich Provinz und zugleich … Extravaganz, gipfelte die Sehnsucht nach Ferne und Zugehörigkeit ganzer Generationen; auch ein wenig im Osten. Der bundesdeutschen „Fresswelle“ folgte die „Reisewelle“: Der VW-Käfer rollte vom Band und über den Brenner in den Süden. Adria, „Teutonengrill“, die ersten Spaghetti Bolognese. Dazu trank man Coca-Cola, während leere Büchsen des Gebräus Schrankwände in DDR-Wohnungen zierten. Mit den Gastarbeitern aus Italien und der Türkei änderten sich die kulinarischen Neigungen; Pizza, Pasta und der (typisch deutsche) Döner verdrängten Schweinsbraten und Klöße vom Speisezettel …
Diese konsumgetriebene Piefigkeit rief Jugendliche – „Halbstarke“ – auf den Plan. Der US-amerikanische Kultfilm von 1955 mit James Dean „Rebel Without a Cause“ (… denn sie wissen nicht, was sie tun“) wurde zum Fanal; zeitgleich rockten Bill Haley und Elvis Presley die populäre Musik, die dann auch dank der Beatles und der Rolling Stones das Lebensgefühl vor allem junger Menschen prägte Hüben wie drüben. Das Überschwappen dieser (pop)kulturellen Phänomene auf die DDR(-Jugend) empörte 1965 Ulbricht: „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.“
Kulturell wandelte sich die BRD deutlich und wurde gewissermaßen zu einem „undeutschen“ Land. Die Quittung für die inkonsequente Aufarbeitung der Nazi-Herrschaft kam 1968 – ein Generationenkonflikt sowie nachfolgend eine breite Modernisierung plus Demokratisierung der Gesellschaft. En passant stieg die BRD auch dank der Globalisierung zur drittstärksten Wirtschaftsmacht der Welt auf. Diese Metamorphose, die das „andere“ Deutschland gründlich entstaubte, ja regelrecht häutete, nahmen die DDR-Bürger von außen wahr, konnten ihre Folgen jedoch logischerweise nicht „leben“ – ein für das Verständnis der eingangs beschriebenen Frustration ob der Wiedervereinigung eminent wichtiger Zusammenhang!
Mit dem Zurückdrängen des „Deutschen“ aus der offiziellen DDR-Politik begann mit Honecker die Propagierung der „eigenständigen sozialistischen Nation DDR“, die sich im Gegensatz zur „imperialistischen Nation“ BRD entwickle. Um dies halbwegs plausibel zu machen brauchte man eine historische Legitimierung. Und zur Überraschung der Öffentlichkeit in Ost und West setzte man auf Preußen. Was umso mehr verwunderte – war doch in der Ulbricht-Ära Preußen an allen Fehlentwicklungen in Deutschland schuld gewesen; Preußen und NS-Staat wurden fast synonym verwendet. Aber auch die Tatsache, dass das Territorium der DDR mit der Keimzelle des Brandenburg-Preußischen Staates quasi identisch war, dass Potsdam und Berlin im Lande lagen, erzwang einen veränderten Umgang mit dem historischen Erbe.
Es ging behutsam voran – 1972 erschien Friedrich II. erstmals in einem Defa-Film: „Die gestohlene Schlacht“. Die DDR-Filmkritik beschrieb diesen noch als satirische Überzeichnung. 1979 dann ein – um es martialisch zu sagen – ein Trommelwirbel: Die Biographie Friedrichs II. der Ostberliner Historikerin Ingrid Mittenzwei setzte neue Maßstäbe; man dürfe die positiv-progressiven Momente der Preußischen Geschichte nicht missachten oder negieren. 1980 dann der Paukenschlag – das Reiterdenkmal Friedrichs II kehrte quasi an seinen historischen Standort Unter den Linden zurück. Der DDR-Mutterwitz reimte: „Lieber Friedrich, steig hernieder, / sei so gut, regier’ uns wieder. / Lass in diesen schweren Zeiten / lieber unsern Erich reiten“. Es herrschte ein gewisser selektiver Enthusiasmus für Preußen; die vaterländischen Turner Jahn und Guts Muths; auch Lützows wilde verwegene Jäger waren populäre Gestalten.
Als Antwort auf Adenauers Wiederbewaffnung hatte die DDR im März 1956 eine eigene Armee ins Leben gerufen. Man kleidete sie in die tradierten steingrauen Uniformen; Schnitt und Trageweise waren durchaus „militaristisch“. Was neben dem in der Tradition der Preußischen Armee stehenden NVA-Paradeschritts schon einige ungute Erinnerungen weckte. An „positive“ preußische Überlieferungen wurde mit dem Scharnhorst-Orden angeknüpft; das 1813 von Schinkel geschaffene Eiserne Kreuz hingegen überließ man der verhassten Bundeswehr.
Ob die DDR das „wahre Deutschland“ war, ob man sich vom Osten Berlins auf eine „Zeitreise“ in ein „altes Deutschland“, in „eine Mischung aus Preußen und DDR“ machen kann, liegt im Auge des Betrachters. Doch es muss wohl ein westdeutsches sein … Dass andererseits die bundesrepublikanische Laissez-faire-Gesellschaft von 1990 – nun die gesamtdeutsche, in der sich der kulturelle Liberalismus der frühen Jahre mit einem ökonomischen (Neo)Liberalismus der späten Jahre verwoben hatte – nach einer kurzen ersten Euphorie nicht auf die ungeteilte Begeisterung der ehemaligen DDR-Bevölkerung traf und trifft, kann jedoch einleuchten.
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