27. Jahrgang | Nummer 21 | 7. Oktober 2024

„Intellektualisierte Kriegführung“

von Peter Linke, zz. Almaty

Verändert Künstliche Intelligenz (KI) die Natur und den Charakter des Krieges? Kaum eine andere Frage wird derzeit von Militärtheoretikern weltweit so leidenschaftlich diskutiert wie diese. Sehr viele halten es dabei mit Carl von Clausewitz, für den Krieg vor allem eines war: eine extreme Form menschlicher Aktivität. Technologische Neuerungen mögen den Charakter des Krieges über die Jahrhunderte verändert haben – seine Natur blieb davon jedoch stets unberührt, so der preußische General.

Nach heute vorherrschender Meinung sei Krieg keine logische Angelegenheit, sondern gründe sich auf menschlichen Emotionen wie Hass und Angst, kenne aber auch Momente der Vernunft sowie der Zufälligkeit – und genau diese machten ihn zu einer zutiefst menschlichen Angelegenheit. Ohne den Menschen verlöre der Krieg seinen sozialen und politischen Kontext. Daran werde sich auch künftig nichts ändern, da niemand, kein Politiker und kein Militär, bereit sei, die ultimative Kontrolle über das Schlachtfeld an ein technisches System abzutreten.

Der Zukunft sieht man daher in einschlägigen Analystenkreisen eher entspannt entgegen: Menschliche Intelligenz und Kreativität, so Peter Hickman stellvertretend für viele, werden den nächsten Krieg entscheiden, und nicht Technologie.

Tatsächlich? Gegenwärtig entwickeln mehr als 40 Länder, darunter die USA, Russland, China, Indien, Großbritannien, Israel, Frankreich und Südkorea, Kampfroboter, die auf jegliche menschliche Intervention verzichten. Mit anderen Worten: vollständig autonome Systeme, die ohne menschliche Kontrolle Entscheidungen treffen und entsprechend handeln. Dieser Grad von Autonomie unterscheidet derartige Systeme von solchen, die entweder mit Menschen „interagieren“ oder menschlicher Kontrolle unterworfen bleiben.

Ermöglicht wird derartige Autonomie durch die verstärkte Ausstattung solcher Robotersysteme mit KI. Auch wenn es sich bei Letzterer um ein Computerphänomen handelt, das (noch?) nicht über die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen verfügt, ist KI in ihren Entscheidungen nicht länger an einen rigiden Algorithmus gebunden. Das unterscheidet sie vom Phänomen computergestützter Automatisierung: „Der wesentliche Unterschied zwischen Intellektualisierung und Automatisierung“, so der russische Experte für militärische KI Wasilij Burenok, „ist die Fähigkeit des Computers, Entscheidungen unter Bedingungen erheblicher Unsicherheit, basierend auf heterogenen und unvollständigen Informationen, sowie vor dem Hintergrund sich häufig ändernden Situationen auch jenseits des programmierten Algorithmus zu treffen.“

Autonome Analysefähigkeit, selbstständige Entscheidungsfindung, Lernfähigkeit, das Vermögen sich an verschieden Situationen anzupassen – auch und vor allem im militärischen Bereich hat KI hat das Zeug, den Menschen als ultimativen Entscheider zu eliminieren. Und selbst wenn er Teil des Systems bleiben sollte, dürften ihn Geschwindigkeit und Komplexität KI-gesteuerter Prozesses sehr bald dazu bringen, das Handtuch zu werfen.

Angesichts derartiger Perspektiven verwundert es schon, mit welcher Begeisterung weltweit auf die „Intellektualisierung“ des Kriegshandwerks reagiert wird: mehr autonome Waffensysteme, so eine gängige Meinung, schützten menschliches Leben und verringerten den moralischen und psychologischen Druck auf Militärangehörige. Und selbstredend verheißt die „Beherrschung“ von KI technologische Souveränität und militärische Potenz.

Entsprechend wächst das globale Arsenal KI-basierter Waffensysteme zu Land, zu Wasser und in der Luft.

Im Sommer 2020 vernichteten in Fort Liberty (North Carolina) US-Soldaten erstmals ein von einem KI-Programm lokalisiertes und identifiziertes Ziel. Seitdem hat das Maven genannte Programm zur Gefechtsfeldaufklärung dank entscheidender Durchbrüche auf dem Gebiet des maschinellen Lernens erhebliche Fortschritte gemacht und versorgt inzwischen auf regulärer Basis das ukrainische Militär mit notwendigen Daten zur Vernichtung russischer Ziele durch GPS-gelenkte Waffensysteme.

Daneben arbeiten Boeing, General Atomics, Kratos und Northrop Grumman im Rahmen des Projekts Skyborg an Entwürfen für unbemannte Flugapparate, die im Zusammenspiel mit bemannten Jagdflugzeugen Aufklärungs- und Kampfaufgaben wahrnehmen sollen. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang das von Kratos entwickelte unbemannte strahlgetriebene Tarnkappenflugzeug XQ-58 Valkyrie.

Die US-Kriegsmarine wiederum treibt mit dem Projekt Ghost Fleet Overlord die Entwicklung unbemannter Überwasserfahrzeuge voran, die untereinander oder gemeinsam mit bemannten Schiffen agieren und auf diesem Wege wertvolle Hinweise für die weitere Gestaltung unbemannter Überwasserplattformen liefern.

Neue Wege geht auch Großbritannien, das 2022 mit dem XV Patrick Blackett einen maritimen Versuchsstand für innovative Technologien wie unbemannte Über- und Unterwasserfahrzeuge sowie Quantennavigation präsentierte.

Mit den Kampfdronen Elbit Hermes 450 sowie IAI Heron TP hat sich Israel fest auf dem internationalen Markt für unbemanntes Fluggerät etabliert – mindestes drei weitere Kampfdronen sollen in der Entwicklung sein.

Von der Türkei ist bekannt, dass sie derzeit zwei Dronentypen fertigt: zum einen die Kampf- und Aufklärungsdrohne Bayraktar (Fackelträger), zum anderen das mit einem ukrainischen Düsentriebwerk ausgestattete Kampfflugzeug Kizilelma (Roter Apfel).

Mit dem Warrior, einer Drone die ab 2025 im Verbund mit dem leichten Kampfflugzeug HAL Tejas fliegen soll, versucht Indien derzeit, Anschluss an jüngste Trends bei der Entwicklung von militärischen Mensch-Maschine-Systemen zu finden. Analoge Absichten verfolgt das im südindischen Bangalore angesiedelte Zentrum für KI und Robotik (CAIR) mit der Entwicklung eines sogenannten Multi-Agent Robotics Framework.

China plant, bis 2030 zur weltweit führenden KI-Macht zu werden. Erreicht werden soll dies durch die zunehmende Verschmelzung von Militär und Gesellschaft, das heißt durch zügige militärischer Innnovation auf dem Wege enger Kooperation des zivilen Sektors mit der Rüstungswirtschaft. Ziel ist die Fähigkeit zur „intellektuellen Kriegführung“ (womit die verstärkte Nutzung von KI zur Lösung militärischer Aufgaben gemeint ist). Wichtige technologische Schritte in diese Richtung sind die Kampfdrone Feihong FH-97A, konzipiert als sogenannter Loyal Wingman für Chinas ultramodernes Jagdflugzeug Chengdu J-20 sowie im maritimen Bereich

Pekings erster unbemannter Tarnkappentrimaran, der dem Vernehmen nach bereits im Sommer 2022 erfolgreich getestet wurde.

Unbemannte Luftfahrzeuge stehen auch auf Russlands Prioritätenliste ganz weit oben. Führend bei deren Produktion sind der Kalaschnikow-Konzern (KUB, Skat-350M, ZALA 421-16, Karakurt) sowie die Kronshtadt-Gruppe (Orion, Grom – konzipiert als Begleitschutz für das Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeug Suchoi Su-57).

Der eigentliche Schwerpunkt russischer KI-Aktivitäten scheint jedoch nicht unbemanntes Fluggerät zu sein (auch wenn Russland hier in den letzten Jahren trotz aller Schwierigkeiten zugelegt hat), sondern die Integration von künstlicher Intelligenz in existierende und künftige unbemannte bodengebundene Fahrzeuge. Etwa in die Panzer Uran-6 und Uran-9, den Multifunktionspanzer Nerechta, den robotechnischen Komplex Udar, den leichten Panzer Soratnik mit integrierten neuronalen Netzwerken und der Fähigkeit zur Interaktion mit Flug-Drohnen sowie den robotechnischen Komplex Marker zur Bekämpfung von Dronenschwärmen.

Parallel zur „intellektuellen“ Nach- und Aufrüstung der russische Panzerwaffe werden Anstrengungen unternommen, diverse automatisierte und autonome Systeme für eine verbesserte Gefechtsfelderkennung miteinander zu vernetzten.

Entsprechende Impulse dafür scheinen vom 2012 gegründeten Zentralen wissenschaftlichen Forschungs- und Testzentrum für Robotechnik (GNIIZR) des russischen Verteidigungsministeriums sowie der Kommission des Verteidigungsministeriums für die Entwicklung militärischer robotechnischer Komplexe auszugehen.

Für verbesserte Kommunikation zwischen zivilen und militärischen Strukturen soll die 2018 im südrussischen Anapa gegründete Militär-Innovative Technopolis ERA sorgen. Auf engstem Raum arbeiten hier hunderte Spezialisten mit Russlands begabtesten Nachwuchswissenschaftlern an der schnellstmöglichen Realisierung innovativer militärischer Projekte.

Die Diskussionen um autonome Waffensysteme gehen inzwischen weiter: „Eine KI kann nicht Russlands Präsident sein,“ so Wladimir Putin 2020, „weil sie kein Herz, keine Seele, kein Mitgefühl und kein Gewissen hat. Aber sie kann dem Präsidenten assistieren, ja ihm sogar ein guter Lehrer sein.“

International spricht sich Russland aufgrund seiner Erfahrungen mit unbemannten Waffensystemen gegen ein Verbot autonomer Waffen aus. Außerdem, so Moskau, seien „Killerroboter“ reine Zukunftsmusik. Was freilich Russlands langjährigen Verteidigungsminister Sergej Shojgu nicht davon abhielt, im Mai 2021 zu behaupten, sein Land habe bereits begonnen, derartige Roboter zu bauen.

Dies lege den Schluss nahe, so die Militäranalystin Anna Nadibaidze von der Süddänischen Universität, dass die Autonomie-Debatte unter russischen Politikern, Diplomaten und Militärs noch nicht abgeschlossen sei und es zu einfach wäre, anzunehmen, ethische Debatten, wie sie anderswo geführt werden, würden in Russland nicht stattfinden.