27. Jahrgang | Nummer 20 | 23. September 2024

Eine etwas andere (Auto-)Biographie Hesses

von Mathias Iven

Spricht man über Hermann Hesse, fällt unweigerlich der Name von Volker Michels. Seit mehr als fünf Jahrzehnten wirkt er als Herausgeber von dessen Schriften und Briefen. In dem von ihm begründeten und in Zusammenarbeit mit seiner Frau und Hesses Sohn Heiner aufgebauten Hermann-Hesse-Editionsarchiv hat er wohl fast lückenlos in Originalen und Kopien all das zusammengetragen, was vom Autor hinterlassen wurde und was man über ihn geschrieben hat. Neben ungezählten Anthologien liegt seit 2005 die von ihm herausgegebene, 20 Bände umfassende Werkausgabe vor, eine 10-bändige Edition der wichtigsten Briefe aus den Jahren 1881 bis 1962 steht kurz vor dem Abschluss.

Schon als 14-jähriger Schüler kam Michels mit dem Werk von Hermann Hesse in Berührung. Nach der „elektrisierenden Lektüre“ von Unterm Rad schrieb er ihm einen Brief – und er erhielt Antwort. Und nicht nur das. Im Verlauf seiner vier letzten Lebensjahre schickte ihm Hesse auch Typoskripte von neu entstandenen Gedichten und Privatdrucke seiner letzten Rundbriefe. Noch heute spricht Michels von dieser für ihn „nachhaltigen Erfahrung“.

Schon mehrmals war man in der Vergangenheit angesichts seines editorischen Einsatzes an Michels mit dem Vorschlag herangetreten, eine Biographie über Hesse zu verfassen. Um in dieser Hinsicht noch Neues und Unbekanntes präsentieren zu können, konzentrierte sich Michels auf die Sichtung der bisher erfassten, immerhin etwa 24.000 Schreiben umfassenden Korrespondenz. Denn es sind, wie er betont, vor allem Hesses Briefe, „die unversehens eine fast lückenlose Autobiographie ihres Verfassers ergeben, die zuverlässiger und reichhaltiger ist als vieles, was mangels eindeutiger Quellen bisher oft nur spekuliert und gemutmaßt werden muss“.

In seinem jetzt vorgelegten „Lebensbild“ präsentiert uns Volker Michels nicht allein einen Schriftsteller, der seit weit über hundert Jahren von jeder jungen Generation neu entdeckt wird und dessen Werke in mehr als 80 Sprachen übersetzt und weltweit in mindestens 150 Millionen Exemplaren verbreitet sind. Wir treffen zugleich auf einen Außenseiter, der gelebt hat, was er als Dichter vertrat, der „sich zeitlebens allen Verlockungen politischer Vereinnahmung widersetzt und nur seinem eigenen inneren Kompass vertraut [hat], sei es auch um den Preis, dafür als Spielverderber ausgegrenzt zu werden“. Hesses „aus dem Leiden am Gefälle zwischen den Zumutungen der Zeitgeschichte und dem des persönlichen Gewissens“ resultierendes Schreiben zielte auf eine Festigung der Persönlichkeit jedes einzelnen seiner Leser und sollte von diesen als Ermutigung zu humanem Widerstand verstanden werden. Handelte er doch selbst ganz im Sinne seines im Sommer 1919 entstandenen Gedichts „Gestutzte Eiche“, wo es am Ende heißt: „Und allem Weh zu Trotze bleib ich / Verliebt in die verrückte Welt.“ Den von Hesse viel beschworenen „Eigensinn“ deutet Michels dementsprechend „als Mut zur Eigenständigkeit, als abenteuerliche Expedition zu uns selbst, als Erforschung und Entfaltung unserer persönlichen Anlagen im Widerstand gegen den Konformitätsdruck von außen“.

Sehr persönliche Worte findet Volker Michels, wenn es um die Wahrnehmung Hesses durch „unsere Meinungsmacher“ geht. Schon dessen Tod am 9. August 1962 sei der deutschen Presse kaum mehr als eine Fußnote wert gewesen. Die Zeit ging in ihrem Nachruf gar so weit zu behaupten, dass in Zukunft wohl „kein Blumentopf“ mehr mit ihm zu gewinnen sei. In einem jüngst aufgezeichneten Werkstattgespräch brachte Michels seinen „Zorn auf die in unseren Medien vorherrschende Arroganz“ zum Ausdruck, „Hesse als einen eskapistischen Innerlichkeits-Autor abzuqualifizieren“; zudem kritisierte er „die bei Philologen weitverbreite Neigung, beliebte Werke als Trivialliteratur abzutun“. Und in seinem Buch hält er nüchtern fest: „Bei wohl keinem anderen ernstzunehmenden literarischen Autor klafft die Schere zwischen Popularität und offizieller Wertschätzung so weit auseinander.“

Bei Michels steht der Autor als Briefschreiber im Mittelpunkt. Tagtäglich hatte Hermann Hesse mit einer schier unendlichen Flut von Leserzuschriften zu kämpfen. Jeder sollte eine Antwort bekommen. Vielleicht ist Hesses Werk ja gerade deshalb so zeitlos lebendig, weil er tiefer als manch anderer in die Seelen der Menschen geschaut hat.

Nachsatz: Noch bis zum 2. Februar 2025 zeigt das Museo Hermann Hesse in Montagnola die Ausstellung „Wo Hermann Hesse, da Volker Michels – Der Herausgeber und Wegbereiter eines zeitlos aktuellen Schriftstellers“. Die von Marcel Henry und Céline Burget kuratierte Exposition verdeutlicht einmal mehr, „auf welche Weise die editorische Arbeit das Bild eines Autors zu erweitern und zu aktualisieren vermag“.

Volker Michels: „Auf den Einzelnen kommt es an.“ – Hermann Hesse. Ein Lebensbild aus seinen Briefen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 222 Seiten, 18,00 Euro.