27. Jahrgang | Nummer 19 | 9. September 2024

Die Pay Gap ist Realität

von Ulrich Busch

Vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen veröffentlichte Inga Kunze in einer linken Tageszeitung einen nicht sehr umfangreichen, aber sehr pointierten Beitrag über die Lohn-, Gehalts- und Vermögenslücke zwischen Ost- und Westdeutschland. Die darin beschriebenen Tatsachen sind bekannt, werden in den Medien aber häufig ignoriert oder als nur „gefühlte“ Diskrepanzen heruntergespielt. Die Autorin bezieht sich in ihrer Darstellung auf volkswirtschaftlich relevante Durchschnittsgrößen. Dadurch bleiben regionale und personelle Differenzierungen außer Acht, was für einen überregionalen makroökonomischen Vergleich völlig korrekt ist.

Die Hauptthese besagt, dass es im Westen mehr vermögende Haushalte gibt als im Osten und dass das reichste Prozent im Altbundesgebiet durchschnittlich viermal so viel Vermögen besitzt wie vergleichbare Haushalte im Beitrittsgebiet. Ähnliches gilt für die ärmere Hälfte der Bevölkerung, die im Westen durchschnittlich 24.000 Euro, im Osten aber nur 12.000 Euro besitzt. Weiter wird festgestellt, dass die Einkommenshöhe in Deutschland nicht nur von der Arbeitsleistung und der Qualifikation abhängt, sondern auch davon, ob das Heimatbundesland seit 34 Jahren zur Bundesrepublik gehört oder schon länger. So lag der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst 2023 im Westen bei 4578 Euro, im Osten aber nur bei 3754 Euro. Die Differenz von 824 Euro monatlich oder knapp 10.000 Euro im Jahr ist beachtlich. Das wird besonders anschaulich, wenn man diese Differenz auf die Lebensarbeitszeit bezieht, also mit der Anzahl der Arbeitsjahre multipliziert. Vergleicht man die jährlich verfügbaren Haushaltseinkommen in Ost- und Westdeutschland miteinander, so erhält man eine ähnliche Relation, obwohl hier Steuern und Sozialbeiträge sowie bestimmte Fixkosten bereits abgezogen sind. Die Differenz beträgt trotzdem immer noch 9356 Euro.

Die entscheidende Aussage in dem Text ist die Feststellung, dass es hier nicht um ein Gefühl der Ostdeutschen geht, abgehängt zu sein, sondern um das Faktum ihres Abgehängtseins, um ihre tatsächliche Benachteiligung. Die Autorin schreibt: „Wenn … (westdeutsche) Medien behaupten, der Ostdeutsche fühle sich abgehängt, übersehen sie einen Punkt: Er ist es auch.“

Nun wäre es freilich zu kurz gegriffen, wollte man hiermit die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen sowie die Vorhersagen für die Wahl in Brandenburg erklären. So einfach liegen die Dinge nicht! Schaut man sich daraufhin aber die Kommentare zu dem referierten Artikel an, insbesondere die westdeutscher Blogger, so wird klar, wie groß die Ignoranz gegenüber den ostdeutschen Problemen ist und wie tief der Riss geht, der sich 34 Jahre nach der deutschen Vereinigung immer noch durch Deutschland zieht.

Ein Blick auf einige im Netz veröffentlichte Kommentare soll dies belegen: So werden beispielsweise die neuen Bundesländer nicht als ein Teil Deutschlands betrachtet, sondern dem früheren „Ostblock“ zugerechnet, indem als Vergleichsmaßstab für Einkommen und Wohlstand nicht die alten Bundesländer, sondern osteuropäische Staaten herangezogen werden. Und das 34 Jahre nach Vollzug der deutschen Einheit!

Andere Kommentatoren verweisen auf die vermeintlich ungleichen Lebenshaltungskosten in Ost und West und meinen, sie würden die Lohndifferenz ausgleichen. Das Argument sticht aber nicht. Zum Beispiel sind die Energiekosten im Osten mehr als 20 Prozent höher als im Westen. Und die Tatsache, dass die Wohnungsmieten hier teilweise niedriger sind, wird durch die im Westen fast doppelt so hohe Eigentümerquote kompensiert. Dort sind weniger als die Hälfte der privaten Haushalte überhaupt Mieter, viele aber Eigentümer von Mietobjekten, nicht zuletzt auch im Osten, was ihnen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung generiert. Demgegenüber dürfte der umgekehrte Fall, also der Fall, dass Ostdeutsche Mieteinnahmen im Westen beziehen, selten sein. Mir ist kein einziger derartiger Fall bekannt.

Gleich mehrere Blogger verweisen auf die restaurierten Innenstädte ostdeutscher Kommunen und auf die Kosten dafür, die von Westdeutschen aufgebracht worden seien. Abgesehen davon, dass dieser Hinweis nichts zur Erklärung der Lohndifferenz zwischen Ost und West beiträgt, lässt er auch eine Aussage zur Eigentümerstruktur ostdeutscher Sanierungs- und Investitionsobjekte vermissen. So gehören zum Beispiel die Immobilien in den Innenstädten von Leipzig und Chemnitz bis zu 90 Prozent Westdeutschen!

Ebenso wenig überzeugend sind die Verweise auf die großen Infrastrukturprojekte im Osten in den vergangenen Jahrzehnten, zum Beispiel die Bahntrassen zwischen Berlin, Hamburg und München, den Flughafen BER oder der Autobahnverbindung zwischen Lübeck und Szczecin. Dies sind gesamtdeutsche beziehungsweise europäische Vorhaben und keine Sonderleistungen für den Osten. Besonders deutlich wird dies bei der ICE-Strecke zwischen Berlin und Hamburg, die keinen einzigen Haltepunkt in den neuen Bundesländern hat. Es ist daher absurd, hierin einen Ausgleich für niedrigere Einkommen ausmachen zu wollen.

Natürlich fehlt es nicht an Verweisen auf die einstige marode DDR-Wirtschaft. Mehr als 40 Jahre Sozialismus hätten eben Folgen! Zweifelsohne, aber seitdem sind 34 Jahre vergangen. Der Versuch, die aktuelle Pay Gap mit Fehlentwicklungen und Modernisierungsrückständen in der DDR zu erklären, geht an der ökonomischen Realität vorbei. Die Investitionsquoten und Abschreibungsregeln lassen dies einfach nicht zu. Außerdem haben Fehlentscheidungen der Bundesregierung und der Treuhand nach 1990 auch dazu beigetragen, die wirtschaftliche Basis im Osten zu schwächen und die heute beklagte kleinteilige Struktur hervorzubringen. Darüber aber beklagt sich keiner der Blogger!

Resümiert man alle gelesenen Kommentare, so fällt auf, dass kaum einer den Missstand ungleicher Lohnniveaus und differierender Vermögen als Ausdruck ungleicher Lebensbedingen in Ost und West als Skandal ansieht und entsprechend kritisiert. Stattdessen werden „Begründungen“ gesucht und fragwürdige Erklärungen dafür abgegeben, dass die Ostdeutschen auch dreieinhalb Jahrzehnte nach Vollzug der staatlichen Einheit spürbar schlechter dastehen, geringere Einkommen haben und deutlich weniger Vermögen als die Westdeutschen. Zudem sind sie in den staatlichen Institutionen und politischen Gremien unterrepräsentiert. Das führt zwangsläufig zu Frust, Wut und Protesten. In einer Demokratie beeinflusst es zudem das Wahlverhalten. Mehr als die genannten Fakten dürfte das in den Kommentaren zum Ausdruck kommende Unvermögen auf westdeutscher Seite, die ostdeutsche Realität angemessen wahrzunehmen und zu begreifen, zu den Wahlergebnissen in Ostdeutschland beigetragen haben und weiterhin beitragen.