Die Überschrift – ohne das Fragezeichen – findet sich auf einem Wahlplakat in Dresden. Auf anderen Plakaten steht, es könne nur verteilt werden, was vorher erarbeitet worden ist. Die Partei, die das plakatiert, plädiert damit für ein höheres Renteneintrittsalter und längere Arbeitszeiten, für die Reduzierung des Bürgergelds, gegen Umverteilung und höhere Sozialleistungen.
Eine Binsenweisheit? Obwohl der Satz einerseits stimmt, stimmt er andererseits auch nicht. Steigen spekulationsbedingt die Kurse der Aktien, werden deren Inhaber reicher. Der größere Reichtum ist zwar erstmal nur fiktiv, ein nomineller Buchwert, aber wenn die Papiere verkauft werden, lassen sich mit den Erlösen Güterkäufe realisieren; der Wohlstand der Aktienbesitzer steigt, ohne dass sie dafür hätten arbeiten müssen. Die Zinseinnahmen aus Geldvermögen beruhen auch nicht auf der Leistung der Vermögensbesitzer. Und wer ein Erbe antritt, hat dafür nicht gearbeitet. Die Cum-Ex-Ganoven haben ihren Reichtum und ihren Wohlstand gesteigert, indem sie den Staat beklaut haben. Wohlstand muss also nicht zwingend erarbeitet werden, zumindest nicht unbedingt von denjenigen, die ihn genießen.
Vor zehn Jahren hatte der Wirtschaftsjournalist Jens Berger in einem Spiegel-Bestseller die Frage gestellt „Wem gehört Deutschland? Die wahren Machthaber und das Märchen vom Volksvermögen“. Jetzt hat er den Band aktualisiert und ihn mit dem Untertitel „Die Bilanz der letzten 10 Jahre“ und dem „Schwerpunkt: Die Kriegs- & Krisengewinnler“ herausgebracht. Minutiös zeichnet er die Entwicklung von Vermögen, Reichtum und Verteilung nach. Er beantwortet die Frage, was Vermögen sind, wie ihre Höhe gemessen wird und welche Fallstricke die Statistik bereithält. Er zeigt, wie die Deutschen ihre Altersvorsorge betreiben, wem wieviel Immobilienbesitz, Grund und Boden hierzulande gehören, wer über Aktien verfügt und wer die Eigentümer der Betriebsvermögen sind. Über Betriebsvermögen, Produktionsmittel, verfügten nur die oberen zehn Prozent der Bevölkerung. Die These vom Land des „Mittelstands“ sei ein Mythos. Zwar sind nur 0,3 Prozent der viereinhalb Millionen Unternehmen Großkonzerne, sie erbringen aber mit der knappen Hälfte aller Arbeitnehmer fast 70 Prozent des gesamtwirtschaftlichen Umsatzes und 84 Prozent aller Exporte. Deutschland sei Weltspitze in Sachen Ungleichheit. In den letzten Jahren „gingen 81 Prozent des erwirtschafteten Vermögenszuwachses an das reichste Prozent“. Die anderen 99 Prozent mussten sich mit 19 Prozent zufriedengeben. Und dieser Trend setze sich fort. Berger konstatiert „Nur sehr selten hat das Vermögen einer Person etwas mit ihrer wie auch immer definierten Leistungsfähigkeit zu tun. Vermögen werden in Deutschland in der Regel nicht erarbeitet oder gar zusammengespart, sondern ererbt. Der Unterschied zwischen Arm und Reich entscheidet sich also meistens beim Spermienlotto.“
Muss also Wohlstand gar nicht erarbeitet werden? Auf die Frage, wie der Vermögenszuwachs zustande kommt und wie er sich bei den oberen Zehntausend ansammelt, verweist Berger zum Beispiel auf den Zins-Effekt (bekannt unter dem Bonmot „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.“) und die Tatsache, dass insbesondere die oberen Schichten Sparvermögen ansammeln und daraus Zinsen erzielen können. Die einkommensstärksten zehn Prozent sparen mehr als zehnmal so viel wie der Durchschnitt; die untere Mittelschicht kann nur wenig sparen und die untersten zehn Prozent sind verschuldet. Vor allem aber verweist Berger auf die Rolle der Wirtschaftspolitik und die Steuersenkungen. Seit 1998 wurde der Spitzensteuersatz von 53 auf 45 Prozent gesenkt, die Kapitalertragsteuer auf 25 Prozent mehr als halbiert, die Körperschaftsteuer von 45 auf 15 Prozent reduziert, die auf Veräußerungsgewinne wurde abgeschafft, Vermögensteuer wird nicht mehr erhoben. Vererbte Betriebsvermögen werden ebenfalls nicht mehr besteuert. Noch Fragen? Wenn die „Kaste der Superreichen“, so Berger, „ihr Vermögen … direkt oder indirekt durch eine Umverteilung von unten nach oben erlangt, ist Kritik notwendig. Solange Reichtum und Armut Hand in Hand gehen und mehr Reichtum spiegelbildlich mehr Armut produziert, muss sich eine Gesellschaft die Frage stellen, ob sie sich diesen Reichtum überhaupt leisten kann und leisten will.“
So dankenswert exakt Berger die Vermögensentwicklung und -verteilung analysiert, so lässt er seine Leser doch auch irgendwie ratlos zurück. Müssen Wohlstand und Reichtum wirklich nicht erarbeitet werden? Von Arbeit ist bei ihm nirgends die Rede. Zwar fällt genau einmal der Begriff des „erwirtschafteten“ Vermögenszuwachses und bei der Messung des Werts von Sachvermögen finden sich ein paar Zeilen über unterschiedliche Theorien darüber, aber der Wert materieller Gegenstände sei „eine Frage der Interpretation“. Mit Marx‘ Arbeitswerttheorie könne man eben nicht erklären, warum die Gemälde von Picasso so wertvoll seien. Letztlich würden Vermögensbilanzen auf „Erwartungswerten“ beruhen. Keine Frage, dass Erwartungen bei einer betriebswirtschaftlichen, bilanziellen Bewertung von Vermögen eine Rolle spielen. Aber erstmal müssen Sachvermögen geschaffen werden und genau diese Frage der Schaffung des Wohlstands bleibt bei Berger außen vor.
Hier nun bietet es sich an, zu einer anderen soeben erschienenen Veröffentlichung zu greifen. Klaus Müller hat ein Büchlein über „Ausbeutung“ in der Reihe „Basiswissen“ des Kölner PapyRossa-Verlags herausgebracht. Zwar geht es da auch um die Ausbeutung von Naturressourcen, die Ausbeutung von Sklaven und die Beute von Diebesbanden, aber der Hauptteil ist der Frage gewidmet, wie heutzutage durch Arbeit Gebrauchswert und Wert geschaffen wird und wie Kapital und Vermögen entstehen. Freilich ignoriert Müller die Frage nach dem Wert von Picassos Gemälden, ist sie doch für den Reichtum und den Wohlstand der Gesellschaft nebensächlich. Beantworten könnte er sie durchaus.
Der Begriff der Ausbeutung wird heute zumeist im Zusammenhang mit unterbezahlter Arbeit, besonders hoher Arbeitsintensität oder überlanger Arbeitszeit gebraucht. Müller ruft ins Gedächtnis zurück, was selbst die meisten Angehörigen der Arbeiterklasse nicht mehr interessiert oder was mit einem verständnislosen Achselzucken quittiert würde: Im Kapitalismus ist Ausbeutung nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Auch bei guter Bezahlung sowie normaler Arbeitszeit und -intensität sind Lohnarbeiter ausgebeutet. Sie schaffen den Neuwert, der das Äquivalent für den Wert ihrer Arbeitskraft, den Lohn, und einen Mehrwert enthält, den sich der Kapitalist als Eigentümer der Produktionsmittel unentgeltlich aneignet. Die Begriffe „Wertschöpfung“ und „leistungslose Einkommen“ in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, auf die sich auch Berger beruft, vermitteln noch einen schwachen Abglanz dieser Theorie.
Müller zeigt theoretisch wie empirisch, wie dieser in der Produktion geschaffene Mehrwert verschiedenste Formen annimmt, in denen seine Schaffung durch die Arbeit nicht mehr sichtbar ist. In all diesen Formen, in Profit, Unternehmergewinn und Zins, in Bodenrente und Pacht, in den Preisen von Aktien, Grund und Boden und anderen Vermögenswerten ist die ausgebeutete Arbeit als ihre Quelle auf den ersten Blick nicht mehr erkennbar. Ihre Höhe und Bewegung scheinen völlig anderen Gesetzen als denen der kapitalistischen Produktion und Ausbeutung zu gehorchen. Wer sich wie Berger diesem Blick in das Wesen der Wert- und Mehrwertproduktion verweigert, kann zwar eine Menge nützlicher und korrekter Aussagen über Einkommen und Vermögen sowie deren Wachstum und Verteilung machen, scheitert aber an der Frage, wo und durch wen der Wohlstand eigentlich geschaffen wird.
Auch wenn unser Wahlkämpfer das auf seinem Plakat ganz anders gemeint hat und – abgesehen davon, dass er die Ausbeutungstheorie, wenn er sie denn überhaupt kennt, höchstwahrscheinlich ablehnt – damit unsoziale Absichten verfolgt, muss man ihm in einer Hinsicht dankbar sein: Er rückt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit: Einkommen und Vermögen werden verteilt und umverteilt, aber letzten Endes müssen sie und der Wohlstand erarbeitet werden.
Jens Berger: Wem gehört Deutschland. Die Bilanz der letzten 10 Jahre. Westend Verlag Neu-Isenburg 2024. 268 Seiten, 24 Euro.
Klaus Müller: Ausbeutung. PapyRossa-Verlag Köln 2024. 142 Seiten. 12 Euro.
Schlagwörter: Arbeit, Ausbeutung, Jens Berger, Jürgen Leibiger, Klaus Müller, Wohlstand