27. Jahrgang | Nummer 18 | 26. August 2024

Noch einmal Friedrich Engels

von Holger Politt

Auf den bemerkenswerten Text „Die auswärtige Politik des russischen Zarentums“ von Friedrich Engels aus dem Jahre 1890 hat Wolfgang Brauer Anfang 2023 im Blättchen hingewiesen. Hier sei noch einmal darauf zurückgegriffen, der Anlass braucht nicht lange erklärt zu werden. In seinem Beitrag verweist Engels an einer Stelle auf die Perspektive des Jahres 1760 – von dort schweift der Blick zurück auf die historische Weichenstellung, die Zarenrussland in den Jahrzehnten nach dem Sieg über Schweden im Großen Nordischen Krieg vollziehen konnte: „Doch zurück zum Russland von 1760. Dieses homogene, unangreifbare Land hatte zu Nachbarn lauter Länder, die sich scheinbar oder wirklich im Verfall befanden, sich der Auflösung näherten, also reine matière à conquȇtes waren. Im Norden Schweden, dessen Macht und Prestige gerade daran zugrunde gegangen war, dass Karl XII. versucht hatte, in Russland einzudringen; er hatte damit Schweden ruiniert und die Unangreifbarkeit Russlands evident gemacht.“ Soweit Engels – er zeichnet die Perspektive eines großen strategischen Sieges für das machtbewusste Zarentum, dessen Auswirkungen den eigenen Überlegungen über die gesellschaftliche Zukunft des europäischen Kontinents bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kräftig im Wege stehen.

1617 hatte Schweden im Frieden von Stolbowo Teile Kareliens und das Ingermanland am östlichen Ende des Finnischen Meerbusens auf Kosten Moskaus an sich genommen, der Zugang zur Ostsee war aus russischer Sicht nun vollständig abgeriegelt. Peter I. – ab 1696 alleiniger Zar Russlands – war beseelt von der Rückkehr Russlands an den Ostseestrand und suchte ab 1700 im Krieg gegen Schweden die Entscheidung. Erste schmerzliche Niederlagen – so bei Narva 1700 – warfen den russischen Herrscher nicht um, schnell zeigte sich, dass ein geduldiges Spiel mit der russischen Weite, in die sich der Gegner locken ließ, am Ende den triumphalen Sieg einbringen wird. Die berühmte Schlacht bei Poltawa unweit des Dnepr im Sommer 1709 brachte der Zarenseite den Sieg wie den strategischen Vorteil, der schließlich im Friedensschluss von Nystad 1721 besiegelt wird: Russland erhält auf Kosten Schwedens Karelien, das Ingermanland sowie Estland und Livland. Zuvor hatte Peter I. im Sumpfland des formal noch immer schwedischen Ingermanlandes 1703 St. Petersburg gegründet, jene Stadt, die 1712 demonstrativ und lange vor der vertraglichen Regelung mit der gegnerischen Seite zur neuen Hauptstadt des Reiches erhoben wird. Wenn Russlands heutiger Außenminister Sergej Lawrow halb im Ernst, halb im Scherz meint, Peter I. zähle zu den wichtigen außenpolitischen Beratern Wladimir Putins, so ist Peters herausragende Rolle bei den strategisch bedeutenden Eroberungen im Ostseeraum gemeint.

Die Parallele liegt auf der Hand: Wie Peter I. mit seinem energischen Tun die strategische Position Russlands an der Ostsee überhaupt erst möglich machte, so dass sie in späterer Phase gestärkt und ausgebaut werden konnte, so sieht Putin sein energisches Handeln am Asowschen und am Schwarzen Meer seit 2014. Was damals an der Ostsee Schweden, ist dem Kreml am Schwarzen Meer jetzt die NATO. Die vielen historischen Erklärungen, die langen geschichtsphilosophischen Erläuterungen des russischen Staatspräsidenten sind vorgeschoben – vorgeschoben, um handfeste Machtpolitik oder Machtinteressen zu bemänteln. Man führe keinen Krieg – Kriege gehörten indes zum festen Instrumentarium der Gegenseite, es gehe nur um nötige (wiewohl schmerzhafte) Grenzbegradigungen im Interesse des Weltfriedens, um die Beseitigung historischen Unrechts, um Lösungen eben, die den aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion sich ergebenden Nachteil Russlands endlich ausgleichen sollten. „Schweden musste er brechen“, schrieb Engels über Peter I.; die „Ukraine musste er brechen“, will Putin über sich einst sagen hören.

Doch der Unterschied ist zugleich ein gewaltiger. Schweden war expansionswillige Ostseemacht, stand folglich allem Anspruch im Wege, russische Herrschaft am Ostseestrand zu gründen. Von Expansionsabsichten der Ukraine – noch dazu von solchen gegen Russland gerichteten – kann gar keine Rede sein. Im Wege steht die Ukraine, weil Kiew aus Sicht des Kremls die hochgehaltenen Ansprüche auf staatliche Unabhängigkeit und nationale Souveränität missbrauche, sie einseitig gegen Moskauer Interessen wende und dem Gegner – dem Westen oder der NATO – billig in die Hände spiele. An dieser Stelle kommt das vorwurfgetränkte Wort vom „Stellvertreterkrieg“ ins Spiel, so als ob eigentlich doch die Ukraine Russland angegriffen und den Krieg gegen sich provoziert hätte.

Wie weit dürfen oder können – so eine der Kardinalfragen – ehemalige Sowjetrepubliken in Europa auf ihrem Weg von staatlicher Unabhängigkeit und Souveränität gehen? Estland, Lettland und Litauen sind vollkommen im Westen angelangt, Moskau hatte nach 1991/92 nie die Spur einer Chance, diese Länder in seinem Orbit zu halten. Die beiden größeren slawischen Länder Belarus und Ukraine sind diesbezüglich tatsächlich in einer völlig anderen Situation. Doch zeigten spätestens die Massenproteste in Belarus gegen die Wahlfälschung im Spätsommer 2020, wie die Uhren hier ticken. Putins militärischer Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 sollte die Zeiger der Uhr für immer zurückstellen. Sage niemand, dass Putins Entscheidung ein Zeichen von Stärke gewesen sei! Womöglich führt die Frage nach dem Versagen Moskauer Belarus- oder Ukrainepolitik weiter. Worauf Putin nun setzt, ist der Zeitfaktor – man denkt russisch-geduldig in Jahrzehnten, nicht westlich-hektisch in Vier- oder Fünfjahresscheiben! Den Vorteil im Zeitspiel glaubt er fest bei sich.