27. Jahrgang | Nummer 17 | 12. August 2024

Künstliche Vernunft

von Peter Linke, zz. Almaty

Ich kann Ihnen nicht sagen, was Russland tun wird. Russland ist ein Rätsel, umgeben von einem Mysterium, das in einem Geheimnis steckt. Aber vielleicht gibt es einen Schlüssel. Dieser Schüssel ist Russlands nationales Interesse.“

Was Winston Churchill 1939 sehr richtig erkannt hatte, findet in aktuellen westlichen Russland-Analysen immer weniger seinen Niederschlag: Das Land habe sich in seinem aus der Zeit gefallenen imperialistischen Expansionsdrang vollkommen verrannt und stehe nicht zuletzt infolge westlicher Sanktionen inzwischen auf weiter Flur als wirtschaftlich angeschlagener Paria da. All dies mache vor allem eines deutlich: die Unfähigkeit der aktuellen Kreml-Clique, Russlands „wahre“ nationale Interessen auch nur halbwegs adäquat zu bestimmen. Meist mündet ein derartiger Ansatz in der recht unergiebigen Geschichte vom „Neo-Zaren-Narziss“ Putin, der auf der Suche nach geopolitischer Revanche eine friedvolle „regelbasierte internationale Ordnung“ gewaltsam zerstören wolle.

Wer allerdings in russischen Analysen zur BRICS oder SOZ, in den Reden Putins und seines Außenministers Lawrow über die Schaffung einer „eurasischen Sicherheitsarchitektur“, in den Gesprächen im Rahmen des internationalen Waldai-Klubs, respektive des Sankt Petersburger Wirtschaftsforums keinerlei Hinweise auf Russlands nationale Interessen zu finden vermag, der sollte sein Augenmerk vielleicht wieder einmal auf Russlands diverse innergesellschaftliche Debatten richten.

Besonders tiefe Einblicke in die Frage, wohin Russlands Reise gehen soll, ermöglicht die seit vielen Jahren systematisch geführte Diskussion über das Für und Wider technologischer Innovationen. Angefangen hatte alles 2010 mit der Etablierung von mehr als 30 sogenannten Technologischen Plattformen, im Rahmen derer per Regierungsbeschluss institutionelle Verantwortlichkeiten für ein extrem breites Forschungsspektrum an Disziplinen (Medizin, Gentechnik, Luft und Raumfahrt, Robotik, Bioenergie, Brüter-Technik, Laser- und Optoelektronik sowie vieles mehr) festgelegt wurden.

2019 folgte mit der „Nationalen Strategie zur Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) bis 2030“ ein erster Versuch einer allgemeine Beschreibung des Wesens Künstlicher Intelligenz, ihrer prioritären Entwicklung in Russland sowie ihrer gesellschaftlichen Konsequenzen. Umgesetzt werden sollte diese durch eine sogenannte KI-Allianz, bestehend aus russischen Firmen wie Sberbank, Gazprom Neft, Yandex, Mail.ru Group, MTS sowie dem Russian Direct Investment Fund (RDIF). Ultimatives Ziel war die Schaffung eines KI-Marktes, der zum damaligen Zeitpunkt nicht existierte. Die Chancen dafür wurden als gut eingeschätzt: Nach Umfragen des Meinungsforschungsinstitutes WZIOM standen zum damaligen Zeitpunkt 48 Prozent der russischen Bevölkerung der Perspektive einer digitalisierten Welt aufgeschlossen gegenüber, während nach Daten der UNESCO 72 Prozent der Bürger führender westlicher Staaten KI nicht vertrauten.

Dessen ungeachtet, formulierte die Allianz fünf Risiken und Gefahren, die KI-Anwendungen für den Menschen mit sich brächten: Diskriminierung, Verletzung der Privatsphäre, Kontrollverlust, Beeinträchtigung des Wohlbefindens durch Algorithmus-Fehler sowie unerlaubte Anwendungen. Sie alle fanden Eingang in den im Oktober 2021 verabschiedeten „Ethik-Kodex für Künstliche Intelligenz“ – einem der ersten weltweit. Und dennoch sei dieser kein Allheilmittel: „Die Technologie wird immer komplizierter, während die Fertigkeiten der Menschen verkümmern,“ warnt Ko-Autorin Natalja Kasperskaja. „Jegliches KI-System ist ein potentielles Risiko- und Gefahrenmodell, gegen das kein Kodex etwas auszurichten vermag, wenn der Mensch sich nicht entwickelt.“

Wladimir Putin erkannte früh, dass KI die Welt und Russland tiefgreifend verändern wird, begriff die neue Technologie als revolutionär und unausweichlich, warb insbesondere auf den seit 2019 durchgeführten Internationalen Konferenzen Reise in die Welt der Künstlichen Intelligenz (AI Journey) für ihre breite Nutzung in allen gesellschaftlichen Sphären: „Mit der Einführung von KI in die Wissenschaft, die Bildung, das Gesundheitswesen,“ so der Präsident auf dem inzwischen fünften AI Journey Ende vergangenen Jahres, „beginnt die Menschheit ein neues Kapitel ihrer Existenz […]. Aktuelle Technologien wie GenKI werden faktisch zu echten Partnern der Menschen auf den unterschiedlichsten Gebieten. Für die Wirtschaft und den Staat ist dies heute eine Schlüsselressource.“

Mit dieser Haltung verstört Putin vor allem frömmelnde orthodoxe Laien, für die jegliche „digitale Transformation“ Gotteslästerung ist, weil sie gegen die „natürliche Ordnung der Dinge“ verstoße. KI sei der jüngste Versuch, Russland zu „transhumanisieren“. So wurde unlängst der als persönlicher Beichtvater des Präsidenten geltende Bischof Tichon vom patriotischen Nachrichtenportal Katjuscha aufgefordert, Putin über das „satanische Wesen des Transhumanismus“ aufklären.

Dass Putin der transhumanistischen Dimension des Denkens russischer Kosmisten wie Nikolaj Fjodorows Idee „ewigen Lebens durch Regeneration aller bisher Verstorbenen aus deren kosmischen Staubpartikeln“ oder Alexander Bogdanows Überzeugung, durch Bluttransfusion „ewige Jugend“ zu ermöglichen, nicht unbedingt ablehnend gegenüber zu stehen scheint, machte er bereits 2011 mit seiner durchaus positiven Reaktion auf Dmitrij Izkows Initiative „Russland 2045“ deutlich, im Rahmen derer ein internationales Zentrum für lebensverlängernde und lebensverbessernde Technologien auf kybernetischer Grundlage geschaffen werden sollte. (Etwa zur gleichen Zeit begannen übrigens Putins Töchter Maria Voronzowa und Katerina Tichonowa, sich professionell mit gentechnischen Verfahren und der mathematischen Modellierung biologischer Systeme zu beschäftigen.)

„Russland 2045“ des Medienunternehmers Izkow war der bis dato und auf lange Zeit wohl letzte große Versuch Russlands, mit dem Westen und hier vor allen den USA, technologiepolitisch in ein längerfristiges Gespräch zu kommen: Zwei internationale Konferenzen „Globale Zukunft 2045“ wurden organisiert, eine 2012 in Moskau, die andere 2013 in New York. Westliche Teilnehmer wie Ray Kurzweil, Ben Goertzel oder Randal Koene zeigten sich durchaus beeindruckt von Russlands Initiative. „Ich denke,“ so Koene seinerzeit, „das es Bereiche gibt, wo Russland weiter ist als die USA und ganz bestimmt Europa. In Regierungskreisen scheint es eine größere Bereitschaft zu geben, über bestimmte Themen und Ziele zu reden und nachzudenken, die höchste Kreise in den Staaten und Europa nicht erreichen […]. Ich glaube nicht, dass es in der russischen Regierung offiziell eine positive Haltung zu transhumanistischen Themen gibt. Letztere scheinen jedoch diskutierbarer zu sein, sehr im Gegensatz zu den USA, wo die Debatte von religiösen Fragen dominiert wird.“

2018 stellte Izkow seine Aktivitäten ein – offiziell aus finanziellen Gründen. Bestimmt aber auch infolge sich verändernder geopolitischer und geowirtschaftlicher Bedingungen.

2022 nannte Dmitrij N. Peskow, Putins Chef-Technologieberater (und als solcher eines der rötesten Tücher der erwähnten frömmelnden Orthodoxen) „Ostrowisazija“ („Verinselung“) als wahrscheinlichstes Szenarium für die weitere Entwicklung Russlands, aber auch der USA und Chinas in den kommenden zehn Jahren, das heißt Zusammenbruch des Globalismus, Ende des globalen Sicherheitssystems des 20. Jahrhunderts, Neuaufstellung der globalen Technologiemärkte, Nationalisierung technologischer Standards sowie Relokalisierung kritischer Waren. Ultimatives Ziel dieser „Verinselung“: die Erlangung technologischer und kognitiver Souveränität zwecks Stärkung eigener Verhandlungspositionen bei der Formierung neuer Allianzen mit anderen Staaten.

Putins Novelle der Nationalen KI-Strategie bis 2030 vom Februar 2024 zielt genau in diese Richtung. Die Verschlechterung der makroökonomischen Rahmenbedingungen erfordere den zügigen Ausbau von Rechnerkapazitäten, aber auch eigenständigen, innovativen KI-Lösungen, die Gewinnung qualifizierten Personals, die vertiefte KI-sierung der staatlichen Verwaltung sowie den Abbau regulatorischer Hürden. „Was auf das Land in den nächsten zehn Jahren zukommt,“ so Content AI Generaldirektorin Swetlana Dergatschowa „ist der kompletter Umbau nicht nur aller technologischen Bereiche, sondern sämtlicher gesellschaftlicher Strukturen.“

Der Nachwuchsförderung dürfte bei diesem Umbau eine Schlüsselstellung zukommen. Der weitere Ausbau universitärer Strukturen wie der in Skolkowo (Moskau), Innopolis (Kasan) oder Kolzowo (Nowosibirsk) ist zweifellos wichtig. Aber es geht auch und vor allem um innovative Bildungsansätze: „Was wir brauchen ist ein neues aufklärerisches Projekt, eine Art Voltaire 2.0“, unterstreicht Timur Tschukin, „in dessen Mittelpunkt nicht konkrete Weltbilder stehen, sondern allgemeine Prinzipien, auf deren Grundlage diese Weltbilder interagieren.“

Die Voraussetzung dafür schaffe laut Pawel Lukscha das Neuronetz oder Web 4.0, das in seiner russischen Variante als „globales kollektives Gehirn“ funktionieren soll, wodurch vollkommen neue Formen der Kommunikation ermöglicht würden.

Russische Hirnforscher wie Michail Lebedew mit seinen Arbeiten zur Hirn-Computer-Vernetzung oder Sergej Schumskijs Versuche zur Schaffung einer „Künstlichen Psyche“ mit unbegrenztem Planungshorizont des eigenen Verhaltens und Denkens steuern diesbezüglich wichtige Bausteine bei, während Vertreter einer neue Generation russischer Juristen wie Maxim Pisarenko mit Begriffen wie „selbst-reflektive Künstliche Vernunft“ sich bereits anschicken, die Teilung vernunftbegabter Wesen in „natürliche“ und „künstliche“ ein für alle Mal zu überwinden.