27. Jahrgang | Nummer 18 | 26. August 2024

Gerechte Kriege?

von Stephan Wohanka

Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner
zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.
Der Krieg ist mehr für den Verteidiger als für den Eroberer da, denn der
Einbruch hat erst die Verteidigung herbeigeführt und mit ihr erst den
Krieg. Der Eroberer ist immer friedliebend (…), er zöge ganz gern
ruhig in unseren Staat ein.

Carl von Clausewitz

Wahrscheinlich sind sich alle Menschen guten Willens, selbst Bellizisten, darin einig, dass Krieg grundsätzlich ein menschliches Desaster ist, ein Versagen des genuin Humanen. Steht also wahrhaft sittliches Verhalten gegen jeden Krieg? Nein! Befürworter eines Krieges sind daher nicht allesamt moralisch verkommene Strolche; sie halten Kriege unter Umständen für notwendig. Folglich reduziert sich die Frage nach dem Kriege darauf, dieses „Notwendige“ zu erklären – und diese Erklärung ist eine im weiten Sinne politische! Das Diktum Clausewitz´ vom „Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ macht den immerwährenden Schluss von Krieg und Politik ganz klar; auch eine gescheiterte oder böswillige, in einen Krieg mündende Politik ist Politik…

Der Krieg, den die Ukraine gegen den Aggressor Russland führt, gilt gemeinhin als „gerecht“, als bellum iustum, da ein Verteidigungskrieg. „Gerecht“ und „Krieg“ – kann das aber überhaupt zusammengehen? Ich denke: Es gab, gibt und wird keine Kriege geben, denen das Attribut oder Wesensmerkmal „gerecht“ und damit „das Gute oder Gerechte“ fördernd unmittelbar zuzuschreiben wäre!

Die klassischen Kriterien der Idee des „gerechten Krieges“ − ein moralisch nachvollziehbarer Interventionsgrund (iusta causa), eine verantwortungsvolle Kriegsabsicht (recta intentio), die Ausschöpfung aller anderen Mittel (ultima ratio), die Aussicht auf Erfolg des Ganzen (iustus finis) sowie die Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Mittel (proportionalitas) − beschreiben den bestenfalls zweifelhaften Versuch, das Kriegsgeschehen an ethische Imperative anzunähern, anstatt im Krieg grundsätzlich ein Geschehen zu sehen, das schwerlich einem moralischen Hintersinn zugänglich ist. Gerade moralisch und, was dem gleichkommt, religiös aufgeladene Kriege sind besonders brutal und grausam. Terrorismus und asymmetrische Kriege legen dies klar offen.

Was wiederum nicht ausschließt, dass angesichts eines barbarisch-inhumanen Vorgehens und der Gräueltaten der einen Partei die andere Partei es als auch moralisch geboten sieht, ja sehen muss, Krieg gegen erstere zu führen. Um dazu den vormaligen Kardinal Joseph Ratzinger, später Papst Benedikt XVI. zu zitierten: „Wenn irgendwo in der Geschichte, so ist hier offenkundig, dass es sich beim Einsatz der Alliierten (gegen Hitlerdeutschland – St.W.) um ein bellum iustum handelte.“ Wobei die Gegnerschaft zu Nazideutschland auch im Politischen lag; das bezog sich nicht nur auf die Sowjetunion, sondern schloss westliche Demokratien ein.

Die hierzulande populäre Nachkriegslosung „Nie wieder Krieg!“ war nach dem selbst angerichteten totalen moralischen und materiellen Desaster eine zwar verständliche, aber unzureichende Lehre aus dieser Vergangenheit. Dies deshalb, weil damit der Unterschied zwischen Angreifern und Angegriffenen, zwischen Tätern und Opfern verschwand; und sie konnte sich vor allem im Land der Täter durchsetzen – mit Wirkung bis heute. Die von den Deutschen überfallenen Völker, ob Polen, Franzosen, Russen, Ukrainer oder Griechen, sahen und sehen anders auf diese Formel, denn sie hatten Krieg führen müssen, um die deutschen Aggressoren zu stoppen und zu besiegen. Hätte es hierzulande nicht eher heißen müssen: Nie wieder Überfall! Nie wieder Aggression!? Erst in den späten neunziger Jahren hat die rot-grüne Bundesregierung das nie geprüfte Überlebensmotto der Nachkriegsdeutschen in Frage gestellt: Im Rahmen der NATO sorgten deutsche Soldaten mit anderen dafür, ethnische Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien zu beenden.

Der Begriff des „gerechten Krieges“ hat eine lange theologisch-philosophische Tradition. auch Kant befasste sich damit und lancierte die Idee des internationalen Friedens. Eine militärische Verteidigung gegenüber Aggressoren verbietet sich bei ihm jedoch nicht unter der Voraussetzung, dass die zu installierende internationale Rechtsordnung noch nicht funktioniert. Explizit wären „alle“ (militärischen) „Mittel“ und „Kräfte“ gegen denjenigen erlaubt, dessen „öffentlich […] geäußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher […] kein Friedenszustand unter den Völkern möglich, sondern der Naturzustand (vulgo Kriegszustand – St. W.) verewigt werden müßte“. Anders: Die praktische Realisierbarkeit des (internationalen) Friedens hänge ab von den äußeren Bedingungen und Umständen, und das sind der Natur der Sache nach politische! Ein anderer Denker sah gar in „Freund“ versus „Feind“ die Grundlage alles Politischen. Das muss man sich nicht zu eigen machen, aber ist ein Hinweis mehr, dass – wenn schon – Kriege geführt werden, sie einer politischen Rechtfertigung bedürfen!

Grundsätzlich gestaltet die Politik die Rechtsordnung: In einem demokratischen Staat wird diese maßgeblich durch die politische Willensbildung bestimmt. Über die Idee von der „rechtssetzenden Gewalt“ werden Prinzipien bereitgestellt, um die politischen Realitäten auszumachen, nach denen Gewalt gerechtfertigt ist. „Gerechtfertigt“ bedeutet, dass Gewalt einen Grund oder eine Erklärung hat, die sie rechtmäßig und akzeptabel macht. Es bedeutet nicht unbedingt, dass sie fair oder moralisch richtig ist, sondern dass es eine erklärende oder verteidigende politische Begründung dafür gibt. Mit Beginn der Neuzeit setzte sich die Überzeugung durch, dass allein der Staat Gewalt anwenden darf; er besitzt das Gewaltmonopol.

Der Begriff des „gerechtfertigten Krieges“ als politische Kategorie bezieht sich auf die Legitimation und Rechtfertigung eines Krieges im politischen Diskurs und in der Praxis von Staaten. Anders als die moralisch-philosophische Diskussion um den „gerechten Krieg“ liegt der Fokus auf der Legitimität und den rechtlichen und strategischen Rahmenbedingungen, unter denen Staaten Krieg führen. Es kann hier nicht darum gehen, einen Kanon in Sachen „gerechtfertigter Krieg“ aufzustellen analog dem eingangs zitierten vom „gerechten Krieg“. Soviel kann man jedoch sagen: Ein Krieg ist gerechtfertigt, wenn er sowohl nach innen (gegenüber der eigenen Bevölkerung) als auch nach außen (in der internationalen Gemeinschaft) Akzeptanz findet. Desgleichen ist er gerechtfertigt, wenn er mit dem Völkerrecht übereinstimmt; die UN-Charta bietet den völkerrechtlichen Rahmen, militärische Gewalt in Fällen der Selbstverteidigung oder aufgrund eines Mandats des UN-Sicherheitsrats anzuwenden.

Auch der Schutz von Menschenrechten oder die Verhinderung von Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen können als Gründe für eine gerechtfertigte militärische Intervention sein, wie es beispielsweise der schon erwähnte Kosovo-Krieg 1999 zeigt: Der damalige serbische Machthaber Slobodan Milošević hatte mit Srebrenica schon einen Völkermord geschehen lassen; in Kosovo drohte ein zweiter. Die Friedenskonferenz von Rambouillet scheiterte; alle zivilen Bemühungen, den Konflikt friedlich zu lösen, waren so erschöpft und die UNO befürchtete nun, dass „sich die Situation im Kosovo in Anbetracht der wachsenden Zahl der Vertriebenen […] zu einer noch größeren humanitären Katastrophe entwickeln könnte“. Russland, Serbiens Verbündeter, blockierte das Mandat zu einem UNO-Einsatz. Trotzdem entschloss sich die NATO zu intervenieren. Legal war der Einsatz nicht, er widersprach dem Völkerrecht. Als gerechtfertigt und legitim kann man ihn trotzdem betrachten; in derartigen Fällen gewinnen moralische Kriterien jenseits des Völkerrechts an Bedeutung, die höher zu bewerten sind als das Recht.

Es kann auch in einem grundsätzlich gerechtfertigten Krieg Verletzungen des Kriegsrechts (ius in bello) geben; die höchst umstrittenen Atombomben-Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gehören dazu. Insgesamt war jedoch der Kampf der Alliierten und namentlich der USA gegen Japan als Verteidigungskrieg ein gerechtfertigter Krieg.

Zur aktuellen Lage hierzulande: Ich muss gestehen, dass mir im Ernstfall um die Reaktions- und Handlungsfähigkeit von Politikern, die zwischen einem Aggressions- und einem gerechtfertigten Verteidigungskrieg und seiner notwendigen Unterstützung nicht sicher unterscheiden können, bange ist.