27. Jahrgang | Nummer 15 | 15. Juli 2024

Ohne mich oder die Erschöpfung des Westens

von Stephan Wohanka

Die Ergebnisse der Europawahlen hierzulande und darüber hinaus sind bekannt. Ostdeutschen wird Undankbarkeit, Jammerei, mehr noch – Demokratiedefizit und Ausländerfeindlichkeit vorgeworfen. Verdecken diese Vorwürfe, so unsachlich sie im Einzelnen auch sein mögen, nicht etwas – nämlich, dass sich in Ostdeutschland eine eigene politische Kultur ausgebildet hat, die noch eine lange Zeit bestehen wird, unabhängig davon, was sich die „offizielle“ Politik wünscht? Thüringens Innenminister Georg Maier befand, dass man im Westen nicht auf die ostdeutschen Länder zeigen solle, denn „ich fürchte längst, dass die Saat im Osten einfach nur weiter aufgegangen ist. Meine Sorge ist: Wir sind ein Vorreiter für das ganze Land“.

Die politische Lage in vielen westlichen Ländern ist von einem Gegensatz geprägt – einerseits warnen Politiker eindringlich davor, dass die Zeiten des Wohlstands, auch des Friedens vorbei seien und die Menschen sich auf mögliche Einschränkungen und Kriege einstellen müssten; man müsse „resilient(er)“ werden. Die Resonanz darauf ist jedoch verhalten; die Menschen folgen in Teilen der Politik nicht mehr. Durch die Aufsplitterung der Parteienlandschaft, die Echokammern in den Medien und außerordentliche Ereignisse wie Corona sind gewisse politische Regeln, die die Demokratie ausmachen, unterhöhlt worden. Namentlich die Transparenz in Fragen, die die die Nation als Ganze betreffen, ist in Teilen – auch eben aufgrund der gewachsenen Komplexität der Vorgänge – verloren gegangen.

Früher hätte es ausgereicht, auf Chiffren wie Freiheit, Demokratie und Wohlstand zu verweisen. Diese Rhetorik hat viel von ihrer Überzeugungskraft verloren. Viele Menschen hierzulande, wie auch große Teile der Bevölkerung im globalen Westen überhaupt, reagieren mit einem Rückzug. Sie verweigern die „Pflichterfüllung“ gegenüber einer Politik, die in ihrer Wahrnehmung wenig Zeit darauf verwendet, sich für sie einzusetzen. Sie wurden zu einem eigenen unpolitisch-politischen Milieu. Eine soziale Dynamik wurde in Gang gesetzt – je weniger sich die Bürger wertgeschätzt sehen, desto weniger sind sie bereit, für Ihr-Bürger-Sein einzustehen. Auf der einen Seite steht eine Elite, die vor den negativen Auswirkungen ihrer eigenen Politik geschützt ist. Sie entschuldigt sich weder für Irrtümer, noch übernimmt sie Verantwortung für Fehler und hat sich mehr oder weniger immun gemacht gegen die negativen Folgen ihrer Politik. Auf der anderen Seite finden sich Teile der Bevölkerung, die sich – auf verschiedene Arten – vom öffentlichen Leben und vom Dienst darin verabschieden: „Ohne mich“.

Die Handhabung der Finanzkrise von 2008 ist ein eklatantes Beispiel dieser verantwortungslosen Politik; letztlich war keiner schuld, mehr noch – die „öffentliche Hand“ vulgo der „Steuerzahler“ – also wir alle mussten dafür bezahlen. Bis Ende 2017 summierten sich die Kosten auf 59 Milliarden Euro; laut Grünen-Finanzexperten Gerhard Schick „(hat) eine vierköpfige Familie mehr als 3000 Euro für die Pleitebanken bezahlt“. Im Kern war die Finanzkrise eben dies: Eine Vertrauenskrise; die Zahlungsfähigkeit von Banken, Versicherungen, Unternehmen und ganzer Länder stand auf dem Spiel. Mit der Verpflichtung des deutschen Staates, die Verschuldung nach der akuten Krise wieder zurückzuführen, sollten Vorkehrungen gegen Wiederholungen getroffen werden. Ergriffene Maßnahmen? Zu wenige.

Wenn „große Kulturen“ – und der „Westen“ ist eine solche – ihre innere Bindekraft verlieren, dann schlägt die Stunde des „inneren Proletariats“. So nennt der britische Historiker Arnold J. Toynbee (1889–1975) in seinem Werk A Study of History, das die Lebenszyklen von Imperien untersucht, jene Masse von Unzufriedenen, die sich im Bestehenden nicht unbedingt materiell benachteiligt, sondern eher spirituell entfremdet und der Gesellschaft nicht mehr zugehörig fühlen: „Der Staat arbeitet nicht mehr für uns.“ Toynbee versteht den Begriff „Proletariat“ nicht im Sinne von Marx, sondern lehnt sich an die Bezeichnung für die ärmste Klasse der römischen Stadtbewohner an als einer Gruppe von Bürgern, die zwar innerhalb eines Imperiums leben, aber aus verschiedenen strukturellen Gründen nicht mehr von diesem profitieren – und daher kaum zu seiner (politischen) Verteidigung bereit waren.

Zwei Länder stehen derzeit aus einleuchtenden Gründen im Focus des Weltinteresses – Frankreich und die USA. Zahlreiche elaborierte politische Analysen sind dazu abrufbar; jedoch – manchmal kann Literatur erhellender sein als diese: Didier Eribons Rückkehr nach Reims und James David Vance’ Hillbilly-Elegie.

Eribons Buch ist ein zwischen Autobiografie, Klassenanalyse und Kulturdiagnose changierendes Traktat, das mit schonungsloser Klarheit die soziale Realität, soziale Erfahrungen, unsichtbare Formen der Gewalt beleuchtet, die den Autor formten. Bei Eribon erfährt man, dass der Dirigismus der französischen Kommunistischen Partei für den Zulauf von Linken zu den autoritären Versprechen der Rechtspopulisten mitverantwortlich ist. Nachzulesen ist, wie es zum Aufstieg des Front National, den Marie Le Pen zum „Rassemblement National“ (Nationale Sammlung) machte, kam und wie das französische Proletariat von Kommunismus und „schickem“ Sozialismus zu Nationalismus, Europafeindschaft, Hass auf Islam und Fremde überlief. Eine „Rückkehr“ sei nicht möglich; „die über so viele Jahre hinweg aufgebauten Mauern [lassen sich] nicht einfach einreißen“. Unwillkürlich kommt mir eine deutsche Politikerin in den Sinn – einst Galionsfigur der Kommunistischen Plattform innerhalb der Linken und heute Namensgeberin eines nationalistisch-sozialen Bündnisses …

Vance wiederum war zwölf Jahre alt, als er in einem Gerichtssaal saß; verhandelt wurde das Sorgerecht für ihn. Die Angeklagten, Angehörigen und Zeugen waren Frauen und Männer in Jogginghosen, mit ungepflegten Haaren. Die Richter und Anwälte trugen Anzüge und sprachen die „andere“ Sprache, die der Junge bis dahin nur aus dem Fernsehen kannte. „Die Menschen, die dieses Gericht betrieben, waren anders als wir. Die Menschen, die vor diesem Gericht erscheinen mussten, waren es nicht“. So wie in diesem Gerichtssaal ist auch die amerikanische Gesellschaft gespalten, geschuldet jenem liberal-elitären Komplex, zu dem der Autor inzwischen aufgrund eines erfolgreichen Jurastudiums selbst zählt. Als Trump-Erklärbuch wurde die Hillbilly-Elegie berühmt und Vance zum prominenten Kronzeugen der Abgehängten. Dass sich Lebenswelten in komplexen Gesellschaften wie den USA auseinanderentwickeln, dass Subsysteme mit eigenen Kodizes, Werten und Verhaltensweisen entstanden, ist sicher normal. Das ändert aber nichts daran, dass weite Bevölkerungsschichten diese Ausdifferenzierung mit schlechteren Jobs und kaum politischer Macht bezahlen.

Und interessanterweise – nicht nur der „Westen“ war und ist bedroht; auch das „Imperium“ Sowjetunion war nicht von der Toynbee’schen „Proletarisierung“ verschont: „Der fehlende Wunsch und das Unvermögen, gut zu arbeiten, politische Passivität, Gleichgültigkeit gegenüber den moralischen und politischen Werten des Sozialismus, die moralische Degradierung vieler Millionen und das Dominieren der Mittelmäßigkeit, die Diskrepanz zwischen Wort und Tat und die Begünstigung einer allgemeinen Atmosphäre der Unwahrheit – all das hat mehrere Generationen seelisch verstümmelt. So gesehen, sind die allgemeinen Folgen des ‚Breshnewismus‘ nicht minder schwer als die Folgen des Stalinismus“, wie der Historiker Roi Medwedew im Sputnik schrieb. Am nachfolgenden Kollaps der SU, den sozialen, politischen und autoritären Irrungen und Wirrungen in Russland trägt das Land (und die Welt) bis heute.

Nach Toynbee ist die Geschichte ein offener Prozess; der Bestand und die Dauer einer Kultur hängen maßgeblich davon ab, wie es ihr gelingt, Krisen zu bewältigen und existentielle Herausforderungen zu meistern. Der „Niederbruch“ einer Kultur, ihr Zerfallen in Fraktionen könne aufgehalten und das Überleben und der Bestand der Zivilisation gesichert werden; das hänge davon ab, wie namentlich die herrschende Minderheit und das inneres Proletariat mit- und gegeneinander interagieren.

Werden die westlichen Völker noch einmal imstande sein, sich intern und auch untereinander zusammenzuraufen, um so schöpferische Kräfte zu mobilisieren und gestalterische Energien aufzubringen? Kann es ihnen gelingen, aus der gewaltigen Masse des globalen Wissens, ihrer abendländischen Traditionen und ihres Weltgefühls einen neuen Aufbruch zu gestalten und diesen in neue geistige Produktivität und eine demokratie- und umwelterhaltende Ordnung zu überführen? Offene Fragen. Bestenfalls.