Grünes Sommertheater um Egon Krenz im Schwarzwald

von Jutta Grieser

Egon Krenz ist gereist. Die Tatsache, dass es von der Ostsee bis in den Südwesten Deutschlands ging, ist nicht der öffentlichen Erwähnung wert, wenngleich tausend Kilometer mit dem Auto für einen 87-Jährigen alles andere als erholsam sind und er darum jede Wiederholung ausschließt. Aber auch das ist keine Nachricht wert. Interessant ist diese Reise allenfalls wegen der Umstände.

Eingeladen hatte das Freiburger Theater. Dort gibt es eine Talkshow, die zur Aufführung gelangt, wenn es keine Aufführung gibt. Folgerichtig heißt das Format „Heute nichts gespielt“ (Eigenwerbung: „Die 1. politisch-nachhaltige Talkshow Freiburgs“.) Der österreichische Schauspieler Martin Müller-Reisinger holt sich illustre Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft auf die Bühne. Nicht alle Gäste finden Zuspruch: Unlängst musste die Veranstaltung mit dem Ex-OB Freiburgs und einstigen Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg mangels Interesse ausfallen.

Die Wahrscheinlichkeit war gering, dass dies auch bei Krenz passieren würde, weshalb sich das Theater seit Jahren um ihn bemühte, der, nachdem er zugesagt hatte, als „Ehemaliger Deutscher Politiker der SED“ auf Plakaten annonciert wurde. (Warum wird im Westen „deutsch“, wenn es attributiv gebraucht wird, grundsätzlich groß geschrieben? Weil wir eine Großmacht sind?)

Dass die Krenz-Veranstaltung ausverkauft war, verdankte man wohl auch den grünen Stadtoberen. Sie waren umgehend in Schnappatmung gefallen. Die Ankündigung könne man „nur mit Entsetzen zur Kenntnis  nehmen“ (Stadtrat Lars Petersen). Und sein Kollege Timothy Simms monierte im Theaterausschuss, dass auf dem Plakat des Theaters „nichts von den Wahlfälschungen“ stünde, „kein Wort davon, dass Krenz wegen der Todesschüsse an der Mauer verurteilt wurde“ und für „andere Verbrechen der DDR-Diktatur“ Verantwortung trug. Ständig vom eigenen verlegenen Räuspern unterbrochen, wie die Übertragung von radio dreyeckland beeindruckend dokumentierte, war der Grüne „ehrlich gesagt entsetzt“ und fand es „unerträglich“, dass das Theater eine „Werbetour für Krenz finanziert“. Simms verteilte im Ausschuss den Verriss eines einschlägig bekannten Historikers, der zu dem Schluss gekommen sei, dass in den Krenz-Memoiren* „die DDR schöngeredet wird und im Jahre 75 des Grundgesetzes die BRD schlechtgeredet wird“. So referierte der Stadtrat minutenlang über den „klaren Antidemokraten“ namens Krenz und regte an, mindestens einen „kompetenten Counterpart“ dem Moderator zur Seite zu stellen, weil’s der offenbar allein nicht könne. Simms: „Mein Fraktionskollege Petersen hat vorgeschlagen, den Herrn Kowalzcuk einzuladen.“

Ob die Einladung erging, ist nicht bekannt, wohl aber Petersens Brief vom 17. Juli an den „sehr geehrten Herrn Oberbürgermeister, lieber Martin“. Das Kompromissangebot des Theaters, neben den Moderator den aus Dresden stammenden und in der DDR studierten Schauspieler Henry Meyer zu setzen, hielt darin der grüne Stadtrat Petersen für „erkennbar unzureichend“. Darum: „Ich möchte Dich deshalb dringend bitten, darauf hinzuwirken, dass die Veranstaltung mit Herrn Krenz am 19.07.2024 im Winterer-Foyer des Theaters Freiburg abgesagt wird – in stillem Gedenken an Peter Fechter, Chris Gueffroy und die anderen, mindestens 138 an der Mauer getöteten Menschen.“

Für den in New York weilenden OB, den parteilosen Pastorensohn Martin Horn, wies Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach (SPD) das Ansinnen zurück: Als Stadt werde man nicht in die Programmgestaltung des Theaters eingreifen. „Uns ist bewusst, dass die Person Egon Krenz von vielen mit Unbehagen und auch Ablehnung wahrgenommen wird. Aber das DDR-Regime ist Teil der Deutschen Geschichte und wir halten es für legitim, dieses Thema in einer politischen Diskussionsreihe aufzugreifen und nicht zu verdrängen.“

Unter den Besuchern gaben sich Grüne nicht zu erkennen, die beiden Stadträte waren jedenfalls nicht zu sehen. Im Unterschied zu Krenz scheuten sie augenscheinlich die Öffentlichkeit. Der einzig namentlich bekannte Gast war Gernot Erler, der für die SPD drei Jahrzehnte im Bundestag saß, auch mal Staatsminister im Außenministerium war und unter Kanzlerin Merkel als Russland-Beauftragter der Bundesregierung arbeitete. Er begrüßte Krenz sichtlich erfreut. Vielleicht gibt es inzwischen auch in Freiburg nicht mehr so viele kompetente Politiker der alten Schule, die mit Logik, Sachverstand und Vernunft die Geschäfte besorgen. Da freut man sich über jeden Gesprächspartner, mit dem man zwar nicht unbedingt die Weltanschauung teilt, aber der die Grundrechenarten beherrscht und mit dem man gleich zur Sache kommen kann.

Die Veranstaltung ging über drei Stunden, und erst die Drohung des Personals, man müsse jetzt das Haus schließen, leerte den Saal endgültig. Die meisten fanden sich draußen in den umliegenden Straßencafés wieder. Die Nacht war angenehm frisch, was man dem Höllentäler dankt, einem Wind, der – aus dem Dreisamtal im Osten (!) kommend – am Abend und in der Nacht die Freiburger Innenstadt durchlüftet und insbesondere in heißer Sommerzeit für wohltuende Abkühlung sorgt.

War die Diskussion übermäßig hitzig? Ja und nein. Die Fragen, die gestellt wurden, hatte man im Osten bereits vor dreißig Jahren abschließend erörtert, für Krenz war es darum wie eine Rückkehr in die Vergangenheit. Mauer, Stasi, Schießbefehl sind bei den meisten Ostdeutschen als Thema schon lange durch – heute bewegen sie ganz andere Fragen, sagte Krenz. Etwa soziale Probleme und die fortgesetzte Bevormundung der Ostdeutschen durch Westdeutsche, insbesondere aber beherrsche uns die Angst vor einem Krieg. Statt darüber nachzudenken, wie Deutschland für Frieden in der Welt sorgen könnte, will man es kriegstüchtig machen.

Bei solchen Sätzen gab es Beifall, bei anderen nicht. Etwa als die Rede auf die „Mauertoten“ kam. Krenz versuchte geduldig die ganze Vorgeschichte des 13. August zu repetieren und zu erklären, dass es sich nicht um eine innerdeutsche Grenze gehandelt habe, sondern um eine militärische Grenze zwischen zwei waffenstarrenden Blöcken, die folglich um des lieben Friedens Willen militärisch gesichert werden musste. Auch heute fänden sich an einschlägigen Objekten Hinweisschilder: „Militärischer Sicherheitsbereich. Unbefugtes Betreten verboten! Vorsicht Schusswaffengebrauch!“ Diese Warnung habe auch vor der Staatsgrenze der DDR – die zugleich die Westgrenze des Warschauer Vertrages war – gestanden. Das Risiko sei allen bekannt gewesen.

Darauf kam natürlich umgehend der Vorwurf vermeintlicher Unmöglichkeit, das Land legal verlassen zu können, weshalb man „das größte Gefängnis Europas“ habe illegal verlassen müssen.

Die nach dem Untergang der DDR kreierten Stereotype und Klischees feierten heftig Urständ, das heißt, sie lebten vernehmlich unverändert fort. Nichts Neues unter der Sonne des Westens, nur der alte Käse des Kalten Krieges.

Den hielt Krenz den Freiburgern nicht unter die Nase, sondern versuchte sachlich und logisch zu argumentieren und Nachhilfe in Geschichte zu erteilen. Er streute seine Beobachtungen als exklusiver Zeitzeuge ein. Deshalb war er schließlich eingeladen worden. Er sagte zum Beispiel etwas über Wirtschaftsflücht­linge, die in der DDR ausgebildet worden waren und sich ihren Platz auf der Welt suchen wollten, an dem sie meinten glücklich zu werden (was ja unverändert so ist und wogegen im Prinzip nichts einzuwenden sei. Nur die DDR konnte es sich eben nicht leisten, Ärzte, Wissenschaftler, Ingenieure auszubilden und dann ziehen zu lassen, weil man sie selber brauchte). In diesem Kontext erinnerte Krenz an die unzähligen Wirtschafts- und Kriegsflüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken.

Die wollen rein – aber die Flüchtlinge, über die wir reden, wollten ja raus, hieß es sofort.

Aha, Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling, soso.

Die grünen Jungs, die anfänglich ihren Widerspruch mit demonstrativem Kopfschütteln und Gelächter kundgetan hatten, bedienten nun ihre Handys und googelten, sobald Krenz einen Namen nannte, der ihnen unbekannt war (und das waren ziemlich viele). So zitierte Krenz den Rechtshistoriker Uwe Wesel. Dieser hatte ihn in Verfahren beraten: „Herr Krenz, Sie bekommen vom Gericht nicht Gerechtigkeit, sondern ein Urteil.“ Nachdem die Suchmaschine im Internet fündig geworden war, reckte sich der Finger eines grünen Naseweises. „Herr Krenz, Sie haben verschwiegen, dass der einstige Vizepräsident der Berliner Freien Universität 1974 aus der SPD ausgeschlossen wurde, weil Wesel in einem Vortrag vor dem Kommunistischen Studentenverband den Kommunisten taktische Ratschläge gegeben hat!“

Da fehlten einem die Worte. Krenz erstaunlicherweise nicht.

Natürlich meldete sich auch eine ehemalige Insassin von Hoheneck und einer, der in der DDR nicht habe studieren dürfen. Aber eben auch ein ehemaliger VW-Arbeiter sprach, der einen Verwandten in der DDR gehabt habe, mit dem er bei jedem Besuch diskutiert hätte. Der habe nicht seinen Job gewollt, sondern nur einen VW, sagte er.

Mit anderen Worten: Der DDR-Arbeiter wusste die Demokratie am Arbeitsplatz in seinem volkseigenen Betrieb zu schätzen und wollte nicht weg. Nur mal besuchsweise raus. Wie die meisten anderen DDR-Bürger auch. Das war einer unserer Fehler, sagte Krenz. Wir hätten offener zueinander sein müssen und sagen, was geht und was nicht geht und warum.

Die Zusammenkunft hatte erkennbar einen anderen Charakter als vergleichbare Veranstaltungen im Osten. Es gibt keinen Grund, AfD zu wählen, sagt Krenz im Osten seit Jahren. Im Westen warnte er davor, dem Verdikt zu folgen, dass seien alles Nazis und Ostdeutschland ein Rummelplatz der Rechten. Die Ostdeutschen seien kritisch gegenüber der Obrigkeit aufgrund ihrer seit 1990 gemachten Erfahrungen. Sie seien unzufrieden mit dem politischen System, nicht mit der Demokratie. Sie störe die Arroganz der Macht, die Abgehobenheit von Mandatsträgern. Die etablierten Parteien – inklusive Die Linke – haben ihre Glaubwürdigkeit verloren und versuchten sich nun mit politischer Arithmetik ihre Mehrheiten in Parlamenten zu sichern, was die Wählerinnen und Wähler nur noch mehr verärgert. Die meisten von ihnen wissen, dass diese Alternative für Deutschland eine aus dem Westen gekommene bürgerliche Partei ist inklusive ihres Führungspersonals, das sich mit Phrasen und Lippenbekenntnissen etwa zu Russland Zustimmung besorgt, auf der anderen Seite nationalistisch hetzt. Der Osten ist weder braun noch rot. Um das zu erkennen, muss man sich aber mit ihm beschäftigen.

Ob die Botschaft von jedem verstanden wurde, kann bezweifelt werden. Draußen, als man sich gemeinschaftlich zum Grauburgunder setzte, trat eine gut gekleidete Frau mittleren Alters auf den ostdeutschen Gast zu. „Herr Krenz, Sie sind hier nicht willkommen!“

Sprach’s, warf sich ihr Gucci-Täschchen über die Schulter und stapfte davon.

 

* Egon Krenz: „Gestaltung und Veränderungen. Erinnerungen“, Teil 2, edition ost, Berlin 2023. Der Teil 3 der Erinnerungen, „Verlust und Erwartung“, erscheint im November 2024.