Er ist gebrechlich, verheddert sich in seinen Sätzen, hat Aussetzer und geht unsicher. Kein Wunder, er ist der älteste Präsident der USA, aber das ist nun kein Grund mehr, ihn zu bemitleiden oder lächerlich zu machen. Und an Donald Trumps Stelle wäre ich mit gehässigen Bemerkungen über ihn nun sehr vorsichtig. Denn Joe Biden ist als Präsident der USA nicht nur der mächtigste Mann der Welt, sondern seit Anfang Juli auch mächtiger als je ein Präsident vor ihm.
Er selbst und seine Mitstreiter scheinen das gar nicht bemerkt zu haben. Nicht einmal diejenigen, denen er diese neu gewonnene Macht verdankt, scheinen sich darüber im Klaren zu sein, was sie da angestellt haben. Und damit steht Joe Biden nun vor einem teuflischen Dilemma: Er kann seinen Machtzuwachs einfach weiter ignorieren. Oder er kann ihn nutzen, um Donald Trump als seinen Nachfolger zu verhindern.
Das dahinterstehende Dilemma wird unseren Politiker in den nächsten Jahren oft schlaflose Nächte bereiten – wenn sie es denn bemerken und nicht einfach so tun, als existiere es nicht. Es lautet: Soll man die Demokratie retten oder wiederherstellen, wenn das nur auf undemokratische Art und Weise geht?
Zurzeit steht die polnische Regierung, die seit Dezember vergangenen Jahres das Land regiert, vor diesem Dilemma. Sie kann entweder gar nichts tun und die bestehende undemokratische Ordnung, die ihr die PiS-Regierungen hinterlassen haben, respektieren. Oder sie kann diese undemokratische Ordnung umstürzen, dabei – wie ihre Vorgänger – gegen die Verfassung verstoßen und Rechtsstaat, Minderheitenrechte und die Checks-and-Balances der Verfassung wieder instandsetzen mit der Folge, dass damit auch ihre eigene Handlungsfähigkeit eingeschränkt wird.
Bisher hat sie sich für einen Mittelweg entschieden: Sie erkennt die Rechte des Präsidenten (der jedes Gesetz per Veto blockieren kann) an, ignoriert aber die Urteile des Verfassungsgerichts. Sie respektiert manche, aber nicht alle Gesetze, die ihre Vorgänger durchs Parlament gebracht haben, säubert aber Verwaltung und staatliche Unternehmen auch dann, wenn die von ihren Vorgängern verabschiedeten Gesetze das nicht erlauben.
Und sie ignoriert bisher geradezu ostentativ das Dilemma, das dahintersteckt: dass sie Polen eigentlich nur auf undemokratische Weise demokratisieren kann, wozu sie zunächst Macht, die ihr, formaljuristisch betrachtet, gar nicht zusteht, an sich reißen und sie dann wieder abgeben muss, etwa an ein wirklich und auch von ihr unabhängiges Verfassungsgericht. Dieses Dilemma ist eigentlich schon heftig genug. Aber es verblasst vollkommen im Vergleich mit dem Dilemma, vor dem nun Joe Biden steht.
Alles begann eigentlich mit Donald Trumps Rebellions- und Schweigegeld-Prozessen. Um Sand in das Getriebe der Strafjustiz zu streuen, attackierten Bidens Anwälte die Anklagen gegen Trump vor dem Obersten Gerichtshof. Das war ihr gutes Recht. Trump hat dort im Laufe seiner Amtszeit drei Richter ernannt und damit eine konservative Mehrheit geschaffen. Auch das war sein gutes Recht.
Diese Richter können ihm dankbar sein, aber sie müssen es nicht, denn niemand kann sie abberufen, auch Trump nicht, wenn er wiedergewählt wird. Offenbar sind sie ihm aber dankbar, denn am 1. Juli sprachen sie ihr Urteil zur straf- und zivilrechtlichen Immunität des Präsidenten. Ihr Problem: Nach dem Wortlaut der Verfassung genießen eigentlich nur Bürger Immunitäten, von der Immunität des Präsidenten ist darin nicht die Rede. Also leiteten die Richter den Umfang seiner Immunität aus den Schriften der Verfassungsväter her, die einen „kraftvollen“ und „energischen“ Präsidenten gewollt hatten (und aus der Gewaltenteilung).
Soweit der Präsident offiziell handle, stehe er gewissermaßen über dem Gesetz: Man kann ihn für sein offizielles Handeln nicht nur nicht bestrafen, man darf nicht einmal ermitteln, ob es rechtmäßig war. Würde man das tun, so die Richtermehrheit, würde man den Präsidenten von „kraftvollem und energischen“ Handeln abschrecken, denn statt an das Interesse der USA würde er dann ja nur daran denken, sich vor zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen zu schützen. Dass der Präsident Immunität für offizielles Handeln genießt, war unter den Klägern, dem Justizministerium und Trumps Anwälten unstrittig. Aber wo war die Grenze zwischen „offiziellem“ Handeln und nicht-offiziellem, für das man den Präsidenten dann zur Verantwortung ziehen konnte – nach Beendigung seiner Amtszeit, wohlgemerkt, denn während seiner Amtszeit geht das nur über ein Impeachment.
Als Antwort zogen die Richter, wie sie sagten, einen sehr weiten Perimeter um die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Präsidenten: Er redet mit seinem Justizminister darüber, wie man das für ihn ungünstige Wahlergebnis in einzelnen Staaten zurechtfälschen und Beamte entlassen kann, die sich weigern, dabei zu helfen?
Nun, mit dem Justizminister zu reden und Beamte zu ernennen und zu entlassen, ist ein verfassungsmäßiges Recht des Präsidenten und fällt also unter die Immunität. Und da man nicht einmal ermitteln darf, ob dabei ein Verbrechen verabredet wurde, kann man den Präsidenten auch nicht dafür zur Verantwortung ziehen. Möglicherweise könnten Staatsanwälte nach Beendigung der Amtszeit des Präsidenten dann gegen den Justizminister ermitteln, aber das ist ein eher schwacher Trost. Der Präsident kann ja während seiner Amtszeit die Beweise vernichten, was ja wiederum weder ermittelt noch bestraft werden kann.
Das seltsame Urteil wurde in der Öffentlichkeit und selbst unter Juristen bisher nur unter zwei Aspekten analysiert: wie sehr es die laufenden Prozesse gegen Trump verzögert und beeinträchtigt und was es für eine künftige Präsidentschaft Trumps bedeutet. Das Urteil sei eine Lizenz, Verbrechen im Oval Office zu begehen, fand etwa die Juraprofessorin Kimberley Wehle im Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Und eine der Richterinnen, die eine abweichende Meinung zu dem Urteil veröffentlichte, fand sogar, damit erhalte der Präsident das Recht, einen Militärputsch anzuzetteln. Recht hat sie.
Wenn Trump im Herbst die Wahlen gewinnt, kann er in aller Ruhe daran gehen, einen Putsch zu planen, der seine Herrschaft zementiert, er kann mit den Vertretern der Geheimdienste Absprachen zur Ermordung politischer Gegner treffen und sein Begnadigungsrecht an den Meistbietenden verkaufen. Und kein Staatsanwalt darf in diesen Angelegenheiten auch nur ermitteln, denn das könnte ja die „kraftvolle und energische“ Ausübung des Präsidentenamtes hemmen. Viele sehen in dem Urteil des Obersten Gerichtshof bereits die Abschaffung der Demokratie durch eine kleine Richtermehrheit. Sie vergessen allerdings eines: alles das kann der amtierende US-Präsident jetzt auch.
Bevor Donald Trump nämlich an die Macht kommt, ist erst einmal Joe Biden Präsident, und zwar bis zum 20. Januar 2025. Solange kann er die Macht, die ihm die Richtermehrheit des Supreme Court mit ihrem Urteil übertragen hat, dazu nutzen, Donald Trump als Präsidenten zu verhindern, „kraftvoll und energisch“, wie die Verfassung das angeblich von ihm verlangt und ohne Rücksicht darauf, ob er dabei das eine oder andere Verbrechen begeht.
Mit ihrem Urteil haben die Richter nämlich nicht nur Trump, sondern auch Biden eine „Lizenz zum Putschen“ ausgestellt. Eigentlich müsste man, so fand Richterin Sonia Sotomayor, erst einmal ermitteln, ob der Präsident ein Verbrechen begangen habe und danach entscheiden, ob er dafür Immunität genieße oder nicht. Indem die Richter-Mehrheit diese Reihenfolge auf den Kopf gestellt hat, hat sie jedem künftigen und dem jetzigen Präsidenten einen Freibrief ausgestellt: Egal was er als Präsident tut, er bleibt dafür straffrei.
Das Urteil vom 1. Juli ist das kuriose Beispiel dafür, was passiert, wenn Richter das Recht in den Dienst einer parteipolitischen Agenda stellen, ohne dabei die politischen Folgen abzusehen. Sie haben damit diesen und jeden künftigen Präsidenten dazu ermuntert, Verbrechen zu begehen, um an der Macht zu bleiben.
Für Joe Biden kommt ja noch hinzu, dass er selbst ohne diesen Freibrief wenig Chancen darauf hat, ein Urteil gegen ihn zu erleben. Dass er nach Ablauf seiner Amtszeit haftfähig oder verhandlungsfähig sein wird, ist auch eher unwahrscheinlich. Aber jetzt droht ihm nicht einmal eine Ermittlung, wenn er – zum Beispiel nach verlorener Wahl – daran geht, mit seinen Ministern Beamte in den Swing-Staaten unter Druck zu setzen, um das Wahlergebnis zu manipulieren.
Man muss gar nicht so weit gehen, ihm einen Putsch einzuflüstern. Es genügt, wenn Biden einfach das tut, was Trump bereits vergeblich versucht hat – und die Gefahr, dass Trump die amerikanische Demokratie beseitigt, ist gebannt. Es wäre dann Biden, der sie beseitigt, aber im Gegensatz zu Trump täte er es vollkommen rechtmäßig und könnte absolut sicher sein, dafür nicht bestraft zu werden. Er müsste nur darauf achten, dass, was immer er tut, von den Trump-Freunden im Obersten Gerichtshof und vom Kongress nicht annulliert werden kann, bevor es wirkt.
Nichts deutet darauf hin, dass sich Biden und seine Vertrauten dieser neu gewonnenen Macht auch nur bewusst sind. Die ganze Debatte darüber, ob Biden als Kandidat zurücktreten und Platz für einen Jüngeren (oder eine Jüngere) machen soll, zeugt davon, dass die Demokraten, wie man das von Demokraten ja auch erwarten kann, sich ganz darauf konzentrieren, die Wahlen demokratisch zu gewinnen.
Und ganz im Ernst: Würde Biden alles tun, was ihm die Obersten Richter nun ermöglicht haben, dann wären die USA anschließend wohl auch keine Demokratie mehr. Sie würden dann von Biden oder einem anderen Demokraten statt von Trump regiert – aber da sind wir dann wieder beim Beispiel Polen: Ein Land wird ja nicht dadurch demokratisch, dass eine Regierung die Macht übernimmt, die wir nett finden.
Alles deutet darauf hin, dass Joe Biden die Ermächtigung, die ihm die Richter des Obersten Gerichtshofs zuteilwerden ließen, einfach ignorieren und nichts von alle dem tun wird, was er tun könnte, um eine zweite Amtszeit von Donald Trump zu verhindern. Das ist sein gutes Recht. Gegenteiliges Handeln ist ja auch nicht ohne Risiko. Sollte er einen Militärputsch oder eine Wahlmanipulation à la Trump planen, könnte das leicht zu Sezessionsversuchen stramm republikanischer Staaten, zu inneren Unruhen und anderen unwägbaren Folgen führen, denen vorsichtige und lebenserfahrene 81-Jährige lieber aus dem Weg gehen.
Nur geht er damit dem Dilemma nicht aus dem Weg, denn auch das Unterlassen einer Entscheidung ist eine Entscheidung. Geht er gegen Trump so vor, wie das Supreme-Court-Urteil es ihm einflüstert, werden ihn alle Trump-Gegner lieben und alle Trump-Befürworter hassen. Tut er es nicht, droht ihm das Gleiche umgekehrt: Er trägt dann die Verantwortung dafür, dass ein noch radikalerer Trump mit noch radikaleren Gefolgsleuten an die Macht kommt.
Bis zum 1. Juli hatte er dieses Dilemma nicht – bis dahin musste er sich an die Spielregeln halten. Jetzt hat er es. Und ich beneide ihn nicht darum. Niemand kann ihm die Entscheidung abnehmen, kein Berater, nicht einmal seine Frau. Ich weiß auch nicht, was ich an seiner Stelle tun würde. Schon deshalb liegt mir nichts ferner, als Regierungen zu einem bestimmten Vorgehen zu raten. Sie tragen die Verantwortung, dafür haben sie sich zur Wahl gestellt und wurden gewählt. Sie müssen danach dafür geradestehen. Dieses Kreuz müssen sie selbst tragen. Kein Berater sollte auch nur versuchen, es ihnen abzunehmen.
Berliner Zeitung, 17.07.2024. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.
Am 21. Juli gab Joe Biden bekannt, dass er als Präsidentschaftskandidat zurücktritt.
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