Die Wahlen zum Europäischen Parlament haben in Polen eine lange Wegstrecke des politischen Umbruchs abgeschlossen und erlauben mit ihrem Ergebnis bereits den Blick auf die Präsidentschaftswahlen in genau einem Jahr. Im Grunde begann vor einem Jahr die große Wahlschlacht, als Donald Tusk am 4. Juni 2023 mit der Massendemonstration in Warschau den Regierenden den Fehdehandschuh hinwarf. Über 500.000 begeisterte Menschen folgten ihm. Der Regierungswechsel nach den Parlamentswahlen im Herbst wurde in diesem Jahr gleich nach Ostern noch einmal auf den Ebenen der Wojewodschaften und der Kommunen bestätigt; das neue Regierungslager hatte sich bemerkenswert schnell im Land verankert. Das heftige Aufbegehren der nationalkonservativen Opposition um die Jahreswende gegen die „Regierung vom 13. Dezember“ – womit böse angespielt wurde auf die Ausrufung des Kriegsrechts 1981, weil die Regierung 2023 auch an einem 13. Dezember ins Amt trat – endete schnell. Jarosław Kaczyński ahnte nach wenigen Wochen, dass er sich nichts als einen blutigen Kopf holen würde und zudem riskierte, die Festigkeit des eigenen Lagers auf eine schwere Probe zu stellen. Ihm war zwar klar, dass die Oppositionsbank in Polen besonders hart ist, aber er kehrte schließlich zum ermüdenden parlamentarischen Spiel zurück. Insofern waren die Europa-Wahlen noch einmal ein letztes und willkommenes Kräftemessen, bevor nächstes Jahr das Staatsoberhaupt zu wählen sein wird.
Oben blieb es bei der erwarteten Konstellation – der Abstand zwischen den beiden Hauptparteien ist denkbar knapp. Diesmal hatte die Tusk-Partei die Nase vorn, Kaczyński das Nachsehen, aber die 21 beziehungsweise 20 Sitze von insgesamt 53 polnischen Mandaten in Brüssel machen kaum einen Unterschied. Und 37,1 beziehungsweise 36,2 Prozent der abgegebenen Stimmen zeigen im Augenblick gleichgroßes Potenzial an.
Unten indes gab es doch lange Gesichter und unglaubliches Staunen. Die sich offen gegen die Europäische Union stellende Konfederacja (Konföderation) heimste einen fast schwindelerregenden Wert von 12,1 Prozent der Stimmen ein, die sechs Sitze in Brüssel bedeuten. Auf dem Brüsseler Parkett werden ihre Abgeordneten Neulinge sein, offen ist, wem sie sich auf der rechtsgerichteten Flanke anschließen werden. Im Europa-Bild wird ein gemeinsamer Markt als unerlässlich herausgestellt, auch Schengen solle bleiben, aber die politische Union müsse vom Tisch. Übersetzt heißt das, dass man parlamentarische Arbeit leistet für die Abschaffung des Parlaments.
Die beiden kleinen Koalitionspartner in der Tusk-Regierung gehen einigermaßen gerupft vom Feld, erreichen jeweils drei Mandate. Während die konservativ ausgerichteten Agrarier und Kleinstadtliberalen des sogenannten Dritten Weges – der im Herbst noch zweistellig glänzte – die knapp 7 Prozent Stimmenanteil mit dem schwierigen Themenfeld der Europapolitik bemänteln, lecken Polens Linkskräfte (Lewica) die Wunden. Sie hatten deutlich mehr erwartet als die mageren 6,3 Prozent, hatten mit neuem Rückenwind gerechnet, um wieder deutlicher aus dem Sog des Fahrwassers der Großstadtliberalen von Tusk herauszukommen. Viel Kritik bekam Robert Biedroń zu hören, der die kleine polnische Delegation bei den europäischen Sozialdemokraten anführen wird, weil er am Wahlabend mehr den Sieg der Tusk-Partei besang und weniger das enttäuschende eigene Ergebnis beleuchtete.
Soweit zum Zahlenwerk, denn darüber hinaus gibt es noch etwas zu vermelden, was nicht ganz unwichtig sein wird für die große Schlacht im kommenden Jahr zwischen den beiden Hauptblöcken – dem liberal geführten Block der Großstadt und dem nationalkonservativ geführten Lager der polnischen Provinz. In Polen wird auch bei den Europa-Wahlen in verschiedenen Wahlkreisen gewählt, zudem legen die Parteien zwar eine Reihenfolge ihrer Kandidaten fest, doch der Wähler darf sein wertvolles Kreuz hinter einem beliebigen Namen auf der von ihm favorisierten Liste setzen. So zeigte sich am Wahlabend, dass wichtige Kaczyński-Vertraute überraschend auf der Strecke blieben, dafür wussten sich etwas jüngere Leute von hinteren Listenpositionen durchzusetzen. Sie werden dem engeren Zirkel von Mateusz Morawiecki zugerechnet. Kaczyński hatte noch kurz vor dem Wahltag gemahnt, dass die nationalkonservative Wählerschaft die bewährte Schlachtordnung nicht durcheinanderbringen solle – vorne ist vorne! –, aber diesen Denkzettel musste er am Wahlabend erst einmal verdauen. Viele Beobachter werten das als untrügliches Zeichen für den bevorstehenden und unerlässlichen Generationenumbruch in den Reihen der Kaczyński-Partei. Andererseits gilt nun Morawiecki als derjenige, der keine schlechten Karten besitzt, wenn er nächstes Jahr das Amt des Staatspräsidenten anpeilt.
Zieht man den Strich in der Mitte dieses Wahlmarathons, bei dem es um die politische Weichenstellung für die nächsten Jahre geht, dann ist noch nichts entschieden. Für das Regierungslager gibt es keine schlechte Ausgangsposition, doch wäre erst ein Staatspräsident aus den eigenen Reihen die Probe aufs Exempel. Und die nationalkonservative Opposition darf sich freuen, trotz der schmerzlichen Niederlage im letzten Herbst nicht gänzlich auf verlorenem Posten zu stehen. Sie gewinnt wieder Schwung, den sie nächstes Jahr braucht, um das Rad zurückzudrehen. Kaczyński macht bereits Avancen in Richtung der Rechtsausleger von Konfederacja, er träumt von einer künftigen antiliberalen Koalition.
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