27. Jahrgang | Nummer 10 | 6. Mai 2024

Noch einmal zu Iwan Maiski

von Holger Politt

Günter Hayn mit Dank und Respekt zugeeignet

 

Moskaus legendärer Botschafter in London von 1932 bis 1943 ist im Blättchen (Nr. 5/2017) bereits von Mathias Iven gewürdigt worden. Anlass bot seinerzeit das deutschsprachige Erscheinen der Tagebuchaufzeichnungen Iwan Maiskis aus der Londoner Zeit. Nun lockt eine wohlfeile Taschenbuchausgabe im selben Verlag, noch einmal hinter die Kulissen der Sowjetdiplomatie jener weltbewegenden Tage zu schauen. Und der Blick des Lesers ist mit dem Wissen um den Moskauer Krieg gegen die Ukraine fraglos aufmerksamer geworden.

Im englischen Original sind es schlicht die Tagebücher Maiskis, des Botschafters in London, eine weitere Klassifizierung erfolgt nicht. Die deutsche Ausgabe preist hingegen an: „Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932–1943“. Aber trifft das auch für die Zeit zwischen August 1939 und Juni 1941 zu? Hat Maiski in dieser Zeit – und sei es getarnt und ganz gegen die Linie von Stalins Außenminister Molotow – tatsächlich gegen Hitler gekämpft? Am 24. August 1939 notiert er: „Unsere Politik vollführt allem Anschein nach eine scharfe Richtungsänderung, deren Bedeutung und deren Konsequenzen mir noch nicht klar sind.“ Und den 17. September 1939, den ohne Kriegserklärung erfolgenden Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen, erklärt Maiski in London immer nach dieser Logik: Wir holen uns einfach zurück, was unser Nachbar sich widerrechtlich angeeignet hatte, als wir wehrlos waren. Zum sowjetischen Überfall auf Finnland: „Am Morgen des 30. November [1939] war die Sowjetunion gezwungen, die finnische Grenze zu überschreiten und tief auf finnisches Staatsgebiet vorzustoßen.“ Hat Maiski in dieser Zeit gegen Hitler gekämpft? Er blieb fraglos der Hitler-Gegner, der er schon immer gewesen war, doch hat er zugleich an der diplomatischen Front gegen Hitlerdeutschland gekämpft? Gekämpft, wie er es nach dem 22. Juni 1941 tatsächlich tun wird?

Ein hochrangiges Mitglied der britischen Regierung wurde von Stalin im September 1941 um eine Einschätzung des sowjetischen Botschafters in London gebeten. Der Angesprochene lobte Maiski in den höchsten Tönen, konnte sich aber nicht verkneifen, tadelnd einzuflechten, dass er sich „manchmal zu aufdringlich“ gebärde. Maiski trat nach dem 22. Juni 1941 als Vertreter eines Landes auf, das für seine Verteidigung dringend auf militärische Hilfe von außen angewiesen war. In solch einer Zwickmühle nicht über die Stränge zu schlagen, fällt selbst gewieften Diplomaten schwer. Doch erfüllt Maiski in diesen Monaten – vom Juni 1941 bis zur plötzlichen Abberufung im Spätsommer 1943 – die Rolle des Sowjetbotschafters in London meisterhaft, er wird zum wichtigen Scharnier bei der Herausbildung des festen Anti-Hitler-Bündnisses zwischen London und Washington einerseits, Moskau andererseits.

Maiski war im Sommer 1939 geduldig für eine sowjetisch-englische Verhandlungslösung eingetreten, um den Kriegsausbruch in Europa zu verhindern. Einem Bündnisschluss zwischen Moskau und Berlin verwehrte er sich, konnte sich ihn lange Zeit auch gar nicht vorstellen. „Unwillkürlich schlug ich die Hände vors Gesicht“, so der Eintrag am 22. August 1939, als die sensationelle Nachricht vom Nichtangriffspakt zwischen Berlin und Moskau um die Welt ging. Molotow – der sich für den Pakt mit dem Teufel entschied – beließ Maiski auf dem Posten, was aber, wie gut an dessen Aufzeichnungen zu sehen, seinen Preis hatte.

Der Blick geht zurück zu der Zeit nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Maiskis Aufzeichnungen über die Zukunft Estlands, Lettlands, Litauens und Polens weisen ihn im Frühjahr 1943 bereits als den künftigen Hauptarchitekten der für die sowjetische Sicherheitsdoktrin so sensiblen räumlich-territorialen Nachkriegssituation im östlichen Mitteleuropa und im östlichen Ostseeraum aus: „Aus unserer Sicht hat sich das Schicksal der baltischen Länder für alle Zukunft entschieden. Diese Frage steht, soweit es uns betrifft, einfach nicht mehr zur Debatte. […] Die baltischen Staaten werden, was auch immer passiert, Bestandteil der UdSSR bleiben.“

Zu Polen notiert er am 4. März 1943: „Die Polen sind ein seltsames Volk! Im Lauf ihrer ganzen Geschichte haben sie ihren völligen Mangel an Talent für den Aufbau eines Staatswesens (in der außen- wie in der innenpolitischen Sphäre) unter Beweis gestellt. […] Es fällt schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass Polen generell unfähig ist, über einen längeren Zeitraum hinweg als uneingeschränkt selbstständiger und souveräner nationaler Organismus zu bestehen.“ Nur wenige Tage später diese Notiz: „Die Polen sind nie in der Lage gewesen, einen stabilen, sich systematisch fortentwickelnden Staat zu schaffen. Warum nicht? Der Grund liegt auf der Hand: Das Wesen der staatsmännischen Weisheit besteht darin, dass man sich politische Ziele setzt, die mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen und Mitteln vereinbar sind. Die Polen haben sich nie an diesem Grundsatz orientiert. Im Gegenteil, sie haben sich fast immer unerreichbare Ziele gesetzt. Sie hatten immer, um es mit einem russischen Sprichwort zu sagen, für jeden Rubel Ambition nur eine Kopeke Munition.“ Setzte man statt Polen heute die Ukraine ein, so wäre gar nicht so viel zu ändern: So begründet Moskau den Waffengang gegen Kiew, weil es eine Tradition eigener ukrainischer Staatlichkeit nie gegeben habe, es eine „unabhängige Ukraine“ im westlichen Wortsinn gar nicht gebe, Kiew jetzt gar nicht fähig sei, das ganze Land zu regieren.

Eine Einschätzung im November 1941, die auch so gemeint gewesen ist: „Stalin ist ein wahrer Realist. Er gibt nicht viel auf Worte und versteht nur Taten.“ Maiski wurde im Sommer 1943 von seinem Posten abberufen, übrigens zusammen mit Maxim Litwinow, dem sowjetischen Botschafter in Washington. Das Hinauszögern der zweiten Front durch die Westmächte war der eigentliche Grund; beide wurden nominell zu stellvertretenden Außenministern befördert. Maiski setzte sich – wie bereits erwähnt – für die Formung und Durchsetzung der künftigen Westgrenze der Sowjetunion mit all ihren Konsequenzen ein. Im Februar 1953 wurde er festgenommen, Stalins Tod kurze Zeit später rettete ihm das Leben.

Gabriel Gorodetsky (Hrsg.): Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932–1943. Aus dem Englischen übersetzt von Karl Heinz Siber. C. H. Beck, München 2024, 896 Seiten, 28 Euro.