20. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2017

Der Botschafter und der Philosoph

von Mathias Iven

Als Iwan Maiski (1884–1975) im Jahre 1932 Botschafter der Sowjetunion in London wurde, konnte er bereits auf ein bewegtes politisches Leben zurückblicken. Mehr als zwei Jahrzehnte zuvor hatte man ihn wegen angeblicher Teilnahme an der Revolution von 1905 angeklagt und in die Verbannung nach Tobolsk geschickt. Nach einiger Zeit wurde das Urteil in eine Verbannung ins Ausland umgewandelt, und so verschlug es Maiski nach Stationen in der Schweiz und in Deutschland im November 1912 zum ersten Mal nach London. Sein erster Eindruck von der britischen Hauptstadt war nicht der beste. Am 28. Dezember 1912 teilte er seiner Mutter mit: „Ich würde mir aber nicht wünschen, mich allzu lange hier aufzuhalten. Der bloße Gedanke, hier auf Dauer stecken zu bleiben, bereitet mir fröstelnden Missmut.“ – Doch erst nach mehr als vier Jahren, kurz nach der Februarrevolution 1917 sollte Maiski nach Russland zurückkehren.
Ein zweites Mal kam Maiski 1925 nach Großbritannien. Mittlerweile im diplomatischen Dienst der jungen Sowjetunion stehend, wurde er als Botschaftsrat an die sowjetische Gesandtschaft berufen. Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen im Jahre 1927 arbeitete er in den kommenden Jahren unter anderem in den Botschaften in Tokio und Helsinki. Schließlich erfolgte am 3. September 1932 die Ernennung zum Generalbevollmächtigten in London. Ab 27. Oktober lautete seine neue Adresse: 13 Kensington Palace Gardens – noch heute genutzt als Residenz des russischen Botschafters.
Die folgenden Jahre sollten für den Diplomaten im Zeichen des Kampfes gegen Hitler und den Nationalsozialismus stehen. Vor allem ging es um eine Annäherung Moskaus an die Westmächte. Was sich dabei bis zu Maiskis Abberufung im Sommer 1943 hinter den Kulissen abspielte, wurde von ihm teils minutiös in seinem Tagebuch festgehalten.
Dem israelischen Historiker Gabriel Gorodetsky, der sich seit Jahrzehnten mit der sowjetischen Außenpolitik unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkriegs befasst, ist es zu verdanken, dass dieses einzigartige Dokument nunmehr veröffentlicht wird. Eine vollständige Ausgabe des rund 1.800 Seiten umfassenden Tagebuchs wird in drei Bänden bei Yale University Press erscheinen. Doch schon jetzt erhalten die deutschen Leser einen ersten Einblick in Maiskis Aufzeichnungen durch eine bei C. H. Beck erschienene, rund ein Viertel des Gesamtumfangs umfassende und mit einem umfangreichen wissenschaftlichen Apparat versehene Ausgabe.
Die als Schriftstellerin und »Berufsrevolutionärin« bekanntgewordene Alexandra Kollontai, selbst lange Jahre als Botschafterin der Sowjetunion in Norwegen und Schweden tätig, urteilte über Maiski: „Er ist keine langweilige, engstirnige Person, die keinen Schritt über die Schwelle der laufenden Geschäfte und Themen tut.“ So finden sich in Maiskis Tagebüchern immer wieder Bemerkungen zu seiner Lektüre oder zu Treffen mit Künstlern und Intellektuellen. Doch eine den Philosophen Ludwig Wittgenstein betreffende Episode hat darin keinen Eingang gefunden …
Über viele Jahre hinweg war der seit 1929 in Cambridge lehrende Wittgenstein von dem Wunsch beseelt, in die damalige Sowjetunion zu gehen. Er verband mit dem Land weniger die Ideen und das Wirken von Lenin oder gar Stalin, sondern sah es eher als die Heimat von Dostojewski und Tolstoi, dessen pädagogische Erfahrungen er in den zwanziger Jahren als Volksschullehrer in Niederösterreich umzusetzen versuchte.
Ende Mai 1935 – wie so oft in seinem Leben suchte er gerade nach einem Neuanfang – schrieb er seinem Freund Ludwig Hänsel: „Meine Sommer- wie meine Zukunftspläne sind noch ganz im Unklaren. Ich bin noch weit davon entfernt zu wissen, ob man mich für ständig überhaupt nach Russland lassen wird.“ Kurze Zeit darauf bat Wittgenstein seinen Cambridger Freund und Kollegen John Maynard Keynes um ein Empfehlungsschreiben für den sowjetischen Botschafter in London. Eine Unterredung mit Maiski hätte, so dachte Wittgenstein, zumindest „eine geringe Aussicht [darauf], dass er eine Amtsperson in Leningrad oder Moskau kennt, an die er mich empfehlen könnte“.
Wittgenstein war sich sicher, dass Keynes, der die Sowjetunion selbst besucht und 1925 darüber ein Buch veröffentlicht hatte, seine Gründe für den Wunsch, nach Russland zu gehen, verstand. In dem auf den 10. Juli 1935 datierten Schreiben ließ Keynes eine Bewertung von Wittgensteins Wunsch allerdings offen: „Ich muss es ihm selbst überlassen, Ihnen mitzuteilen, weshalb er nach Russland gehen möchte. Er gehört nicht der Kommunistischen Partei an, doch er empfindet viel Sympathie für die Lebensform, für die die neue russische Regierung seiner Überzeugung nach einsteht.“
Über die nur wenige Tage darauf erfolgte Begegnung berichtete Wittgenstein seinem Freund Maurice O’C. Drury: „[…] dies sei das einzige Mal gewesen, dass er anstelle seines üblichen offenen Hemdkragens eine Krawatte getragen habe, damit Maiski nicht dächte, er wolle ihm mit seiner unkonventionellen Kleidung etwas vormachen. Maiski habe ihn gefragt, ob er Russisch könne, und er habe geantwortet: ‚Probieren Sie mal.‘ Nachdem sie sich eine Weile unterhalten hätten, habe Maiski gesagt: ‚Gar nicht so übel.‘“ – Maiski versprach ihm Unterstützung, hielt er es doch, so Wittgenstein, „anscheinend nicht für völlig aussichtslos, dass ich versuche, die Erlaubnis zu erhalten, mich in Russland niederzulassen, obgleich auch er nicht meinte, es sei wahrscheinlich“.
Wittgensteins Reise begann am 7. September 1935. Bereits am 1. Oktober kehrte er nach Cambridge zurück. Sein Freund Gilbert Pattisson meinte dazu: „Die Reise war ein Experiment, und er sprach nicht viel darüber. Ich hatte den Eindruck, dass er enttäuscht war.“ Es waren offensichtlich vor allem politische Bedenken, die die Heimkehr beschleunigten. Pattisson weiter: „Außerdem empfand er das Leben in Russland so, als ob man den Rest seines Lebens in irgendeiner Armee der Welt verbringen würde, und das sei für gebildete Leute ziemlich schwer.“

Gabriel Gorodetsky (Hrsg.): Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932–1943, C.H. Beck Verlag, München 2016, 896 Seiten, 34,95 Euro.