27. Jahrgang | Nummer 10 | 6. Mai 2024

Israel als Realität wahrnehmen

von Stephan Wohanka

Vor Jahren scherzte der damalige israelische Botschafter in Berlin, Shimon Stein: Als Moses vor Gott stand, fragte der ihn: Wohin willst du gehen? Nach Kanada, wollte Moses antworten. Doch weil er stotterte, sagte er: Nach Kanaan.

Moses´ Nachfahren sind als israelischer Siedler in „Kanaan“, moderner „Eretz Israel“, angekommen. Deren erklärtes Ziel ist es, das biblische Israel zu besiedeln – einschließlich des Westjordanlands, biblisch Judäa und Samaria. Jedenfalls forderte Israels rechtsradikale Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit Ende 2022, dass das „jüdische Volk ein exklusives Recht auf alle Gebiete von Eretz Israel“ habe. Minister wie der wegen rassistischer Hetze und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilte Itamar Ben Gvir, selbst in einer Siedlung lebend, repräsentieren die radikale Siedlerbewegung; einen palästinensischen Staat lehnen sie offen ab. Die Regierungskoalition wird von dem antiliberalen Impetus getrieben, den Staat neu zu ordnen: Der Status des Obersten Gerichtshofs und die Grundrechte sollen geschwächt und das Westjordanland soll unumkehrbar in das Rechtsgebiet des Staates Israel integriert werden. Was als zionistisch-idealistisches Siedlerprojekt begann ist heute zum Epizentrum im Geflecht regionaler Auseinandersetzungen geworden. Das Bild eines unbescholtenen Israels ist nicht (mehr) aufrechtzuerhalten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte im März 2008 vor der Knesset, Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson. Aufgrund unserer historischen Verantwortung für den Holocaust und der danach erfolgten Gründung Israels als Schutzversprechen an die Juden weltweit sei Deutschland dazu verpflichtet. Kanzler Olaf Scholz machte sich den Begriff nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober zu eigen.

Ob Deutschland Israel mit dieser Verpflichtung einen Gefallen getan hat, war von Anfang an sowohl hierzulande als auch in Israel umstritten. Der auch in Deutschland bekannte israelische Historiker Moshe Zimmermann meinte, die deutsche Politik passe sich aus Schuldgefühlen an die israelische Politik an und verschaffe sich dafür Rückendeckung in Europa. Israel könne so seine Siedlungs- und Vergeltungspolitik weiter betreiben. Bei den Palästinensern schaffe das nur Unmut, Extremisten und Terroristen gewönnen an Popularität. Der israelische Schriftsteller David Grossman, nicht irgendwer, hatte schon 1988 nach einer siebenwöchigen Reise durch das Westjordanland geschrieben, die jüdische Ansiedlung dort sei „eine große Katastrophe“, und zwar keineswegs nur für die Palästinenser, sondern auch für die Juden. Es sei eine Idiotie zu glauben, die Zustände dort ließen sich normalisieren: „Eines Tages werden wir eine bittere Überraschung erleben“.

Die ist eingetreten – das erwähnte Hamas-Massaker. Die israelische Bevölkerung verharrt bis heute im Schockzustand. Inzwischen ist die Lage darüber hinweggegangen – es droht Krieg im nahöstlichen Raum. Der iranische Raketenangriff auf Israel war ein kalkulierter Militärschlag ohne menschliche Opfer; Israel und seinen militärischen Helfern, die zum Teil aus guten Gründen wenig Wert auf ein öffentliches Bekenntnis legen, gelang es, den größten Teil der 300 Geschosse abzufangen. Zum anderen existierte ein konkreter Auslöser: Die Israelis waren sechs Tage zuvor mit ihrem Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus weit über den Schattenkrieg hinaus gegangen, der seit Jahren tobt. Sieben Offiziere der iranischen Revolutionsgarde fanden dabei den Tod, darunter zwei Generäle. Anders als der israelische Krieg im Gazastreifen war so ein Vergeltungsschlag gegen Iran nicht von der moralischen Entrüstung gedeckt, die das Hamas-Massaker zu Recht auslöste.

War es vor diesem Hintergrund nicht ein Fehler Irans, überhaupt zurückzuschlagen? Bis zu dem iranischen Abgriff drehte sich die internationale Debatte vor allem um die Frage, ob Israels Krieg in Gaza mit bisher etwa 34.000 getöteten Menschen nicht zu viele zivile Opfer fordere. Nun nahm die Sorge um Frieden und Stabilität in der gesamten Region zu und machte Iran dafür verantwortlich: „Netanyahus Rettungsanker“ hieß es in Israel.

Für Iran war die Aktion trotzdem ein Erfolg – Teheran konnte sich wieder ins diplomatische Spiel bringen, nachdem es seit den Protesten nach dem Tod von Mahsa Amini im September 2022 praktisch vom Westen geschnitten worden war. Diese diplomatische Blockade wurde überwunden, denn vor dem Angriff redete dieser Westen mit Engelszungen auf Teheran ein respektive drohte ihm, nicht (weiter) zu eskalieren. Darüber hinaus ist der iranische Angriff in der arabischen Welt, genauer auf den Straßen, enorm populär. Es ist für die dortigen Herrscher gefährlich, wenn der Eindruck entstünde, sie kooperierten mit einem Land, das einen brutalen Krieg in Gaza führt. Und indirekt ist das auch für den Westen beunruhigend, denn auch er wird der Komplizenschaft beschuldigt. Inzwischen hat Israel – bisher – iranisches Territorium bei Isfahan, dem Atom(bomben)Zentrum des Landes, angegriffen; offenbar ein begrenzter Schlag, so dass sich Iran nicht unbedingt genötigt sehen muss, wiederum zurückzuschlagen. Selbst wenn so der Krieg erst einmal verhindert wurde, der Schattenkrieg geht weiter.

Ob Annalena Baerbock Iraner und Israelis mahnt – die Angesprochenen beeindruckt das kaum: „Ich möchte klarstellen, dass wir unsere Entscheidungen selbst treffen werden“, sagte Netanyahu nach dem Gespräch mit der Außenministerin. Die Deutschen machten sich Illusionen, sagt Guntram Wolff, Wissenschaftler am Brüsseler Institut Bruegel: „Die Bundesrepublik hält sich zu Unrecht für einen großen geopolitischen Player.“ Dabei wollte doch die Ampel eine weitsichtige, strategische Außenpolitik machen. Dazu legte sie nach langem internem Ringen Papiere für eine Nationale Sicherheitsstrategie vor. Sie vermitteln den Eindruck, es gebe einen Werkzeugkasten für Diplomatie. Als das Dokument vor bald einem Jahr erschien, ahnte niemand in Berlin, dass die Hamas Israel überfallen, dass Israel blutig zurückschlagen und dass es zu einem direkten Schlagabtausch mit dem Erzfeind Iran kommen würde.

Der indische Autor Pankaj Mishra – und er ist nicht die einzige derartige Stimme – befindet, dass etwas faul sei an der deutschen Gedenkkultur, auf der die spezielle „Verantwortung für Israel“ fußt; und zwar schon lange vor dem 7. Oktober. Kritiker wie er sprechen von Gedenktheater und meinen das angebliche Zelebrieren der deutschen Schuld, während man auf Nebenwegen nach Entlastung suche. Bei diesem Spagat habe Deutschland immer wieder Geschick bewiesen; aber eben nicht so, dass es nicht aufgefallen wäre. Der Vorwurf lautete: Juden würden hierzulande aus eigensüchtigen Motiven mit erdrückender Zuneigung überschüttet.

Zu viele Gesellschaften des Südens hätten unter dem hässlichen rassistischen Vorurteil des Kalten Krieges gelitten: dass einige Menschen offenbar mehr Freiheit und Würde verdienten als andere. Eine solche Haltung zeigt sich auch jetzt in der westlichen Unterstützung für eine ultrarechte israelische Regierung. Heute würde die Frage, die der palästinensische Aktivist Mustafa Barghouti in einem CNN-Interview formulierte, überall auf der Welt gestellt: „Warum unterstützen die Vereinigten Staaten die Ukraine im Kampf gegen die Besatzung“, während sie im Nahen Osten „den Besatzer“ unterstützen? Diese Frage geht auch an die Bundesregierung. Und beantwortet sie diese „gut genug“ aus Sicht des Fragestellers? „Im Moment jedoch scheinen die meisten westlichen Politiker und Journalisten im Post-Schoah-Narrativ gefangen zu sein, in dem Israel Opfer bleibt …“

Der Leitartikler der Berliner Zeitung Thomas Fasbender schert aus der Front der „Journalisten“ aus: „Seit der Shoah sind fast 80 Jahre vergangen. Auch wenn sich das Juste Milieu der deutschen Mitte an die ererbten Sprach- und Denkregeln klammert: Die Solidaritätsbekenntnisse zum jüdischen Staat wirken wie aus der Zeit gefallen. […] Es wird Zeit, Israel als Realität wahrzunehmen.“

Mag all das auch überzogen klingen; aber „Israel als Realität wahrzunehmen“ heißt doch, darin einen Anlass auch zu sehen für tiefgründiges, selbstkritisches Nachdenken über die Rolle Deutschlands, seine Allianzen nicht nur im Nahen Osten, sondern in der Welt, über seine politischen, wirtschaftlichen und auch militärischen Interessen im westlichen Bündnis und auch außerhalb, namentlich im globalen Süden. Und es müsste rasch gehen.