27. Jahrgang | Nummer 10 | 6. Mai 2024

Den Frieden gewinnen

von Petra Erler

Das neue Buch des SZ-Journalisten Heribert Prantl ist eines, das gelesen werden will, über das nachgedacht werden und diskutiert werden soll, denn er schreibt über Hoffnung.

Inmitten aktueller Katastrophen sucht er nach der Taube, die den Ölzweig trägt, nach dem „Spalt“ (Riss, Bruchstelle) im Grauen, nach dem Ort, an dem das Licht hereinscheinen kann. Wie ein Leitmotiv zieht sich der von Leonard Cohen in seiner „Hymne“ formulierte und von Prantl aufgegriffene Gedanke durch den ganzen Text. Auf dieses Sprachbild muss man sich einlassen, denn wie alle Poesie entzieht es sich letzter Erklärung und trifft mitten ins Herz. Aber womöglich nicht bei allen. Wenn man sich aber darauf einlassen kann, dann schwingen die Worte aus Cohens Text durch Prantls Buch. Wie Cohen will auch Prantl nicht mehr mit der gesetzlosen Meute rennen, mit jenen in hohen Positionen, die predigen, aber nur Gewitterstürme herbeirufen. Auch Prantl will die Glocken läuten, die unter solchen Umständen noch läuten können: Wie kann Frieden werden? Nicht nur als ein Zustand der Abwesenheit von Krieg, sondern als dauerhafte, verlässliche Weltordnung. Das ist Prantls Sehnsucht.

Aber ist sie erfüllbar? Prantl lädt zu einer gedanklichen Reise ein, die mit dem Buch der Bücher beginnt – mit der Frage, was gottgewollt ist, was menschengemacht, und wie Gott auf das Menschenwerk sieht, damals und heute. Dort endet er auch, aber dazwischen ist das Buch ganz diesseitig. Eines, das sich mit „Zeitenwende“, dem Friedensgebot des Grundgesetzes befasst, mit Pazifismus, parteipolitischem Verrat und mit der Entartung des Menschen im Krieg.

Es ist ein kluges Buch, leicht zu lesen und doch anstrengend, denn es ist anders. Es ist kein Buch, das bestätigt oder verwirft und sich beiseite legen ließe mit dieser Art von Erleichterung oder Verdruss, dass man es – so oder so – immer schon gewusst habe.

Denn Prantl startet zwar mit klaren Vorstellungen von Gut und Böse – für ihn ist die Terrortat der Hamas vom 7. Oktober 2023 das Böse, Putins Aggression vom 24.02. 2022 das Böse, aber auch dort ist der Riss. Prantl seziert kaum Interessen. Das ist auch nicht nötig, denn Prantl bewegt sich auf einer anderen Ebene. Ihm geht es um das zutiefst christliche, moralische und menschliche Gebot zum Frieden, einen, der über den Tag hinausreicht und über eine Generation. Daher liest Prantl auch all jenen, die heute auf „Kriegstüchtigkeit“ in Deutschland drängen, gehörig die Leviten: So haben das die Schöpfer des Grundgesetzes nicht gewollt, so ist der grundgesetzliche Auftrag zum Dienst am Frieden nicht gemeint gewesen. Aber viel zu lange hängt dieser grundgesetzliche Leitgedanke schon in der Luft, vergessen, verkommen.

Es würde diesem neuen Werk von Prantl nicht gerecht, alles auszubreiten, was er im Einzelnen denkt, wie er schreibt, oder was ihn auf seiner Suche bewegt. Es sind sehr grundsätzliche Überlegungen. Welchen Rat birgt die Bibel? Was sagen uns Dürers apokalyptische Reiter? Was die Bergpredigt? Was ist die Lehre aus der Geschichte von Kain und Abel? Es ist, als schriebe Prantl in diesen Teilen auch gegen den verlorenen Gottes- und christlichen Wertebezug in unseren Gesellschaften an. So merkwürdig es vielleicht klingen mag, in einem zunehmend säkularen Jetzt erinnerten mich diese Passagen an Überlegungen von Antoine de Saint-Exupéry in dessen „Brief an einen General“. 1944 geschrieben, in barbarischer Kriegszeit, sann Exupéry darüber nach, wie man das Menschliche im Menschen behält und fürchtete doch, es wäre fast verloren. Ähnliche Überlegungen äußerte Johannes R. Becher in den ersten Kapiteln seines „Aufstands des Menschen“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Becher warnte vor dem Glauben, christliche Werte seien leicht verzichtbar und fürchtete ein entstehendes Vakuum, das niemandem Halt oder Trost bieten würde.

Prantl stellt die Frage, was es ausmacht, Feind zu sein und Feind zu bleiben. Wie ist es, wenn man sich im anderen Menschen selbst erkennt? Was überwiegt, Ideologie oder die verbindende Gattung? Das ist eine wichtige Frage, eine, die Prantl nicht auflösen will oder kann, aber die gestellt werden muss, und Prantl hat es getan. Denn auch hier sucht er nach dem Riss, der sich auftut, weil der Mensch beides in sich trägt: Bestialisches genauso wie angeborene Moral. Was entscheidet, wie sich die Waage neigt, beim Einzelnen und in der Gemeinschaft? Es ist das Kapitel im ganzen Buch, das am meisten zur Gegenrede einlädt, aber auch zum Nachdenken darüber, wie alles ist.

Für Prantl ist der spontane Weihnachtsfrieden 1914 an der Westfront ein „Weihnachtswunder“. Eines, das den feiernden Soldaten nicht so leicht aus dem Kopf zu kommandieren ist, so dass sie später über die Köpfe derer hinwegfeuern werden, mit denen sie Weihnachtslieder sangen. Ist es ein Weihnachtswunder? Aus jedem Krieg wissen wir, dass eine beträchtliche Anzahl von Soldaten nicht zielt, wenn sie schießen soll. Aus jedem Krieg kehren Soldaten tief traumatisiert zurück – nicht alle, aber viele, beschädigt in ihrer Menschlichkeit. Sie werden das Unmenschliche, das, was sie gesehen und erlebt haben, auch das, was sie selbst taten, nicht mehr los. Bis heute lautet die Antwort darauf nicht, dem Krieg den Krieg zu erklären. Stattdessen werden militärische Lösungen gefunden, die für Entfremdung vom Geschehen sorgen sollen, wie etwa am Kontrollpult von Drohnen.

Ich finde es schade, dass Prantl in diesem Zusammenhang nicht genauer der propagierten Opferbereitschaft im Namen eines höheren Gutes wie Vaterlandsliebe und -verteidigung zu Kriegsführungszwecken nachspürte, wird doch so soldatische Bereitschaft geschaffen für den eigenen Tod, der nicht mehr gefürchtet werden soll, und für die gesellschaftliche Bereitschaft, das soldatische Opfer hinzunehmen, statt dagegen aufzustehen, um das Leben zu verteidigen. Möge er in einem weiteren Buch auch dazu schreiben und seine Gedanken über Pazifismus dadurch weiterführen.

Prantl stellt dem „Weihnachtswunder“ 1914 – und das gehört zu den unvergessbaren Passagen im ganzen Buch – die direkte menschliche Begegnung zweier gegnerischer Kämpfer gegenüber. Diese endet im Mord. Geschah diese Tat aus Angst, beim verbotenen Fraternisieren erwischt zu werden?

Was taugt die Erklärung – und Prantl nimmt ausgerechnet den Gestapochef von Lyon, Klaus Barbie, zum Kronzeugen – dass man auch deshalb foltert oder mordet, weil man sich im anderen erkennt? Barbie hat das von Prantl Beschriebene einmal behauptet.

Ganz generell ist es Prantls Verdienst, mit seinem Buch Fragen zu stellen, die den Leser dazu verführen, es genauer wissen zu wollen, eigene Antworten zu suchen. Im Fall Barbies führte mich das zu einer klugen, genau recherchierten Dissertation über den „Schlächter von Lyon“ von Peter Hammerschmidt und im Ergebnis zur Schlussfolgerung, dass Barbie ein Meister von Täuschung und Lüge, ein Meister des Grauens und vor allem ein selbsterwähltes Mitglied der „Herrenrasse“ war. Er war SS, er blieb zeitlebens SS. So verstand er sich. Insofern war er ein typisches Produkt einer Ideologie der Dehumanisierung des Gegners, die sich in Spielarten bis heute in der Welt hält: Der Feind, der „andere“, ist immer schlimmer als wir, bösartiger und grausamer, kein richtiger Mensch, nicht so einer wie wir. Auch vor Gericht entschuldigte sich Barbie für nichts. Er zeigte keine Spur von Reue. Es sei Krieg gewesen. Der sei nun vorbei.

Und damit, auch wenn das Prantl vielleicht nicht bewusst bezweckte, legte er mit Barbie eine Spur ins heute. Die Kriege der Neuzeit gelten bei einigem guten Willen, rückblickend betrachtet, allenfalls als Fehler – man denke an den Krieg gegen den Irak oder den langen Afghanistan-Krieg. Aber Reue oder gar Aufarbeitung sind damit nicht verbunden. Die Toten werden zur Statistik, die Schäden, die Flüchtlinge auch. Die Kriegsverbrechen bleiben ungeahndet, und falls sie einer wie Assange dem Schatten entreißt, richtet sich die Wut gegen den Enthüller. Wo ist da noch der rettende Riss, nach dem Prantl sucht?

Man findet ihn, wenn man sein Buch zur Hand nimmt und sich einlässt auf die gedankliche Reise. Sie ist sorgfältig komponiert, nachdenklich, kenntnisreich und bewegend. Sie atmet Hoffnung auf Frieden und offenbart gelebte, tief im eigenen christlichen Glaubensbekenntnis verwurzelte Werte. Besseres lässt sich über ein Buch und dessen Autor kaum sagen.

 

Heribert Prantl: Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen, Heyne Verlag, München 2024, 240 Seiten, 20,00 Euro.