27. Jahrgang | Nummer 12 | 3. Juni 2024

Beflissene Falschaussagen

von Peter Petras

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH), Karim Khan, hat am 20. Mai mitgeteilt, dass er internationale Haftbefehle gegen Jahia Sinwar, den Anführer der Hamas im Gaza-Streifen, und zwei weitere Hamas-Führer beantragt habe sowie zugleich gegen den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant. Ron Prosor, Botschafter Israels in Deutschland, nannte dies empört „eine Unverschämtheit“, der Chefankläger dämonisiere und delegitimiere damit „Israel und das israelische Volk“.

Der IStGH sitzt jedoch nicht über Staaten und Völker zu Gericht, sondern ausschließlich über Personen, und zwar dann, wenn es sich um völkerrechtliche Kernverbrechen, wie „Völkermord“, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „Kriegsverbrechen“ sowie das „Verbrechen der Aggression“ handelt. Grundlage ist das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998, sein Sitz ist Den Haag (Niederlande), wo auch der Internationale Gerichtshof seinen Ort hat. Der IStGH wird derzeit von 123 Staaten unterstützt, darunter den EU-Staaten. Die USA, Russland, China, Indien, die Türkei und Israel haben das Statut nicht unterzeichnet, die Unterschrift zurückgezogen oder es nicht ratifiziert.

US-Präsident Joe Biden empörte sich, es gebe „keine Gleichwertigkeit“ zwischen Israel und der Hamas. Das Auswärtige Amt in Berlin meinte, die gleichzeitige Beantragung der Haftbefehle gegen Führer der Hamas und Regierungsmitglieder Israels erwecke den „unzutreffenden Eindruck einer Gleichsetzung“. Die Hamas habe am 7. Oktober 2023 „ein Massaker begangen“, während Israel „sein Recht auf Selbstverteidigung“ ausübe. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Michael Roth (SPD) monierte ebenfalls die Gleichzeitigkeit der Anklagen: „Der Täter-Opfer-Umkehr wird damit weiter Vorschub geleistet.“

Wer sich allerdings die Erklärung Karim Khans im Wortlaut anschaut (Telepolis, 21.05.24), stellt fest, der Ankläger argumentiert sehr differenziert. Zunächst spricht er von „Anträgen“ im Plural und von in diesen „angeklagten Kriegsverbrechen im Rahmen eines internationalen bewaffneten Konflikts zwischen Israel und Palästina und eines parallel laufenden nicht-internationalen bewaffneten Konflikts zwischen Israel und der Hamas“. In der ersten Abteilung geht es um die Verbrechen der Hamas am 7. Oktober 2023, die Tötung Hunderter israelischer Zivilisten, die Entführung von mindestens 245 Geiseln, die „unter unmenschlichen Bedingungen gehalten wurden und einige von ihnen während ihrer Gefangenschaft sexueller Gewalt, einschließlich Vergewaltigung, ausgesetzt waren“. Die angeklagten Hamas-Führer tragen die Verantwortung für diese Verbrechen, „als Mittäter“ und „als Vorgesetzte“. Am Ende fordert Khan erneut die sofortige „Freilassung aller in Israel entführten Geiseln“

In der zweiten Abteilung geht es um die Anklage gegen Netanjahu und Galant und deren „strafrechtliche Verantwortung für die […] Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, die „auf dem Territorium des Staates Palästina (im Gaza-Streifen) ab mindestens dem 8. Oktober 2023 begangen wurden“. Dazu zählt der Chefankläger das „Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung“; die „vorsätzliche Verursachung großer Leiden“, vorsätzliche Tötungen und „grausame Behandlung als Kriegsverbrechen“; „vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung als Kriegsverbrechen“ sowie „Ausrottung und/oder Mord als Verbrechen gegen die Menschlichkeit […], auch in Einheit mit dem Tod durch Verhungern“. Die Anklage geht davon aus, dass diese Verbrechen „als Teil eines weitverbreiteten und systematischen Angriffs gegen die palästinensische Zivilbevölkerung im Rahmen der staatlichen Politik begangen wurden“ und weiter andauern.

Fazit: Israel habe, wie alle Staaten, „das Recht, Maßnahmen zum Schutz seiner Bevölkerung zu ergreifen“. Das entbinde jedoch keinen Staat, auch Israel nicht, „von seiner Verpflichtung, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Ungeachtet etwaiger militärischer Ziele sind die Mittel, die Israel zur Erreichung dieser Ziele im Gazastreifen gewählt hat – nämlich die vorsätzliche Verursachung von Tod, Hunger, großem Leid und schwerer körperlicher und gesundheitlicher Schädigung der Zivilbevölkerung – kriminell.“ Netanjahu und Galant sind „sowohl als Mittäter als auch als Vorgesetzte“ Hauptverantwortliche dafür. Von Gleichsetzung und Täter-Opfer-Umkehr kann keine Rede sein. Das haben sich deutsche Politiker nur aus Beflissenheit gegenüber der Netanjahu-Regierung ausgedacht.

Roderich Kiesewetter, der als außenpolitischer Experte der CDU gilt, sprach von politischem Skandal. Netanjahu sei „der demokratisch legitimierte Regierungschef einer angegriffenen Demokratie“ und werde behandelt „wie Kriegsverbrecher und Aggressor Putin“. CDU-Chef Friedrich Merz meinte: „Aber der Internationale Strafgerichtshof ist eingerichtet worden, um Despoten und autoritäre Staatsführer zur Rechenschaft zu ziehen, nicht um demokratisch gewählte Regierungsmitglieder festzunehmen.“

Der Mann hat Juristerei studiert, hier aber handelt es sich um eine offensichtliche Falschaussage. Im Römischen Statut ist nicht die Rede von der inneren Ordnung von Staaten, sondern ausschließlich von der juristischen Zuständigkeit für die Verfolgung völkerrechtlicher Kernverbrechen. Wir wissen, dass auch die USA in Vietnam, Kambodscha, Afghanistan und anderen Ländern verschiedenste Kriegsverbrechen begangen haben. Dazu gehörte die Ermordung afghanischer Zivilisten, auch Brautgesellschaften per Drohneneinsatz auf Befehl des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama. Für die Verbrechen im Irak-Krieg von 2003 hätten US-Präsident George W. Bush und der britische Premier Tony Blair vor ein internationales Strafgericht gehört – aber dort standen bisher nur Kriegsverbrecher aus Jugoslawien und Afrika.

Hinzu kommt ein weiteres Problem. Der Satz, Israel sei die einzige Demokratie im Nahen Osten, stimmt ebenfalls nicht. Der Politikwissenschaftler Juan J. Linz arbeitete in seinem klassischen Werk „Totalitäre und autoritäre Regime“ (auf Englisch 1975 erschienen, auf Deutsch 1999) heraus, dass der ursprüngliche Gegensatz von totalitären und demokratischen Regimen zu kurz greift. Man müsse den Typus autoritärer Regime dazwischen stellen, die nicht demokratisch aber auch nicht totalitär sind. Hier unterschied er typologisch sieben verschiedene Regime, darunter „Rassen- oder ethnische ‚Demokratien‘“. (Ich benutze Linz‘ Formulierung, wie sie in den 1970er Jahren gefunden und vor 25 Jahren auch ins Deutsche übernommen wurde, unabhängig von heutigen Identitäts-Debatten.) Als klassische Gestalt sieht er diese im Südafrika der Apartheid: „Regime, die einen großen Teil der Bevölkerung oder gar die Mehrheit von einem begrenzten Pluralismus aus rassischen Gründen ausschließen, können als rassische Oligarchien oder autoritäre Regime bezeichnet werden.“ Dort handelte es sich um die strenge Trennung zweier Gesellschaften und politischer Systeme in einem Staat, die letztlich durch Gewalt politisch aufrecht erhalten wurde, wobei die Rechte der einen Seite, der Weißen, an Wahlen teilzunehmen und öffentlich Opposition auszuüben, vergleichsweise groß waren.

Das andere Beispiel, das Linz bei diesem Typus behandelt, ist Israel. „Paradoxerweise zeichnet sich in Israel mit seiner demokratischen politischen Kultur, seinen demokratischen Institutionen, einschließlich proportionaler Repräsentation, die den Parteienpluralismus verstärkt und gleiche Wahl für alle Bürger sichert, eine Entwicklung hin zu einer ‚Rassendemokratie‘ ab. Das geschieht trotz der gegenteiligen Erklärungen seiner politischen Führer. Dies verdeutlicht die Schwierigkeiten, einen demokratischen, multikulturellen, vielsprachigen Vielvölkerstaat zu gründen, wenn ein dominantes kollektives Identitätsbewusstsein einer demographisch bedeutsamen Minderheit gegenübersteht, die sich ihrer Identität ebenso bewusst ist, und wenn beide durch große kulturelle, religiöse, sprachliche und wirtschaftliche Unterschiede getrennt sind.“ Ein gemeinsamer demokratischer Staat müsste „tatsächlich, und nicht nur formal, die Gleichheit von Juden, Arabern und anderen Minderheiten“ garantieren. „Eine solche Entwicklung würde allerdings den grundlegenden Annahmen der Zionisten und den religiösen Charakteristika, auf denen der jüdische Staat aufbaut […], diametral entgegenstehen.“ Solange dies so ist, bleibt der israelische Staat demokratisch nur für den einen Teil der Gesellschaft und gewalttätig und autoritär für den anderen.

Dies ist zugleich der politische und ideologische Hintergrund für die von Netanjahu und Galant befohlene Kriegsführung im Gaza-Streifen.