Er schreibt und schreibt und schreibt … Jeden Morgen, an 360 Tagen im Jahr, wie er sagt, setzt er sich an seinen Schreibtisch. Christoph Hein begeht am Erscheinungstag dieses Heftes seinen 80. Geburtstag. Noch am vergangenen Freitag las er gemeinsam mit der Schauspielerin Carmen-Maja Antoni und dem Autor und Dramaturgen Holger Teschke im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin aus seinem Werk. Der vergnügliche Abend hieß: „Aber der Narr will nicht! Albumblätter und Anekdoten von und mit Christoph Hein.“ Für eine vorher unangekündigte musikalische Abrundung unverwechselbarer Art sorgte Heins enger Freund, der Liedermacher (Hans-Eckardt) Wenzel, der Lyrik und Prosa Heins mit eigener Gitarrenbegleitung vortrug.
Ein gut gelaunter Autor begeisterte das Publikum. Das lag auch an dem angenehmen Gespräch zwischen Teschke, der moderierte, Hein, Antoni und Wenzel, die sich die „Gesprächs-Bälle“ geschickt zuwarfen. Bei Carmen-Maja Antonis Lesung aus „Der fremde Freund“ kam es überraschend an einigen Stellen zu Heiterkeitsäußerungen im Publikum. Hein kommentierte anschließend trocken. „Ich gehöre zu den deutschen Humoristen.“
Die Veranstaltung fand mit Unterstützung des Suhrkamp Verlages statt. Das ist der Verlag, in dem seit über zwanzig Jahren seine Werke erscheinen. Begonnen hatte die schriftstellerische Karriere im Aufbau Verlag, der ihn zwei Jahrzehnte lang verlegte.
Hein entstammt einer Pfarrersfamilie, geboren wurde er 1944 in Oberschlesien. Nach dem Krieg wuchs er im sächsischen Bad Düben, nördlich von Leipzig auf. In West-Berlin besuchte er ein humanistisches Gymnasium, da er das in der DDR nicht konnte (siehe Blättchen 26/2023). Nach einem Studium der Philosophie und Logik in Leipzig und Ost-Berlin arbeitete Hein als Dramaturg an der von Benno Besson geleiteten Ost-Berliner Volksbühne. Später war er dort als Hausautor fest angestellt.
Die ersten Stücke des angehenden Dramatikers wurden – wenn auch unter Schwierigkeiten – gespielt. Ab 1979 arbeitete er als freier Schriftsteller. In verschiedenen Schauspielen verhandelte er mittels historischer Persönlichkeiten die aktuellen Zeitläufe im real existierenden Sozialismus: „Lassalle“ und „Cromwell“. Schließlich wurden „Die Ritter der Tafelrunde“ im Frühjahr 1989 in Dresden aufgeführt und von vielen damals als eine beißende Komödie über das vergreisende Politbüro verstanden. Die Stücke mögen beispielhaft für den kühlen literarischen Blick auf die Endzeit der DDR mit ihrer politischen Agonie stehen. Hein begriff sich als „Chronist ohne Hass und Eifer“.
Gleichzeitig kamen für ihn erste Erfolge als Prosaautor. Die Novelle „Der fremde Freund“ von 1982 (in der BRD „Drachenblut“) avancierte zum „Kultbuch“ in Ost wie West. Sein erster Roman „Horns Ende“ (1985) war eine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus der 1950er Jahre. Fünf verschiedene Figuren erzählen in ihm rückblickend aus den achtziger Jahren über das Geschehen in der fiktiven Kleinstadt Guldenberg. Hein versucht mittels seiner Literatur einen öffentlichen Diskurs über das Tabuisierte und Inkriminierte seines Landes anzustoßen.
Das sächsische Guldenberg wird immer wieder in seiner Prosa auftauchen. Schnell entpuppte sich der Ort als Chiffre für Bad Düben. Zehn Guldenberg-Bücher waren geplant, bekannte der Autor in einem Interview, in einem zusätzlich elften sollte nur noch ein Stadtplan mit der Beschreibung der Handlungsorte der zehn Bücher stehen. Doch dazu kam es nicht. „Glückskind mit Vater“ (2016) enthielt einen anderen Handlungsort. Aber in „Von allem Anfang an“ (1997) „Landname“ (2004) und „Guldenberg“ (2021) ist es erneut das fiktive Guldenberg. In „Landnahme“ erzählen wie in „Horns Ende“ fünf Stimmen, auch werden Motive des älteren Romans erneut aufgegriffen.
In frühen wie in seinen späteren Werken konfrontiert Christoph Hein die politischen Selbstbilder und den offiziellen Geschichtsoptimismus mit Verschwiegenem und Verdrängtem der Gesellschaft, ob das nun in Ost oder im vereinten West-Ost ist. Brüche und Kontinuitäten sind ein immer wiederkehrendes Motiv. Heins Sprache, vermutlich durch sein Studium entsprechend geformt, ist präzise und nicht pathetisch, die Texte sind „mitleidlos genau“ sezierend, Interpretationen werden durch den jeweiligen Erzähler nicht evoziert.
Christoph Hein hat in seinem langen Wirken etliche Literaturpreise erhalten. Stellvertretend genannt sei der für den Autor vielleicht wichtigste zu Beginn seines Erfolgsweges. Bereits 1982 erhielt er den renommierten Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR.
1998 wurde er zum ersten Präsidenten des nach langen Ost-West-Querelen vereinigten PEN-Zentrums gewählt. Er war bis 2006 Mitherausgeber der Wochenzeitung Freitag.
Heins mutiger Auftritt gegen die Zensur in der DDR auf dem X. Schriftstellerkongress 1987 erregte Aufsehen. In der nichtöffentlichen Arbeitsgruppe bezeichnete er die Zensur in der DDR als überholt, nutzlos, paradox, menschen- und volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar. In der Wendezeit, so am 4. November 1989 bei der mächtigen Demonstration auf dem Alexanderplatz, plädierte er für den Aufbau eines demokratischen Sozialismus. In Erinnerung blieb sein Vorschlag, Leipzig den Ehrentitel „Heldenstadt der DDR“ zu verleihen. Für die linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“ unterschrieb er 2018 den Gründungsaufruf.
Der Weg zur Ehrenbürgerschaft, die er 2011 in Bad Düben verliehen bekam, war kein leichter. Der Vorschlag der Kirchgemeinde fand nicht nur Zustimmung im Stadtrat. Heute ist die Stadt stolz auf ihren Autor und Ehrenbürger.
Der Suhrkamp Verlag hat zum aktuellen Jubiläum eine limitierte Edition der Novelle und der fünf genannten Romane herausgegeben. Eine gute Gelegenheit wieder einmal bei Hein über Guldenberg nachzulesen oder das eine oder andere Buch überhaupt zu entdecken. Immer wieder wird der Leser auf autobiografische Bezüge stoßen. Schade ist es, dass bei dieser Gelegenheit keine Auswahl aus Heins zahlreichen und nachdenkenswerten literatur- und gesellschaftspolitischen Äußerungen zusammengestellt und in die Edition integriert wurde.
Im Brecht-Haus erklärte Hein, Wenzel sei oft sein erster „Lektor“. Sein nächster Roman werde 2025 erscheinen, die Arbeit daran habe er bereits vor drei oder vier Monaten beendet. Er las dann ein Stück aus seinem gerade entstehenden übernächsten Roman mit dem Arbeitstitel „Der Fotograf“. Der gelesene Ausschnitt endete mit einem „Cliffhanger“, darin waren sich Bühne und Publikum einig. Wir dürfen also gespannt sein. Der Roman ist wegen der Verkaufslogik vom Verlag für 2027 geplant.
Heins Freund Wenzel hat ihn schon vor Jahren kongenial vertont. Zum 75. Geburtstag gab es ein Konzert mit beiden in Bad Düben. Geplant ist aktuell eine Matinee für den kommenden Sonntag in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (wo denn sonst). Ein Festakt von Freunden für und mit dem Jubilar und mit Carmen-Maja Antoni, Matthias Brenner, Silke Marchfeld, Tobias Morgenstern, Michael Vogt und Wenzel unter dem Titel „Bevor wir verstummen und gehen“. Möge es nicht so schnell passieren.
Christoph Hein: Jubiläumsedition. 6 Bände in Kassette (Der fremde Freund/Drachenblut, Glückskind mit Vater, Guldenberg, Horns Ende, Landnahme, Von allem Anfang an), suhrkamp taschenbuch, Berlin 2024, 1830 Seiten, 58,00 Euro.
Schlagwörter: 80. Geburtstag, Carmen-Maja Antoni, Christoph Hein, Hans Eckardt Wenzel, Holger Teschke, Jürgen Hauschke, Suhrkamp Verlag