27. Jahrgang | Nummer 7 | 25. März 2024

Fünf Jahre Stagnation

von Ulrich Busch

Es steht nicht gut um die deutsche Volkswirtschaft: Auf den tiefen Einschnitt im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und dem Lockdown im Frühjahr 2020 folgte nach einer Stabilisierung im zweiten Halbjahr 2020 in den Jahren 2021 und 2022 ein moderates Wachstum, 2023 aber schrumpfte das Bruttoninlandsprodukt (BIP) wieder und für 2024 sehen die Prognosen nicht viel besser aus. In diesem Jahr wird bestenfalls ein minimales BIP-Wachstum von 0,2 Prozent erwartet. Nimmt man die fünf Jahre von 2020 bis 2024 zusammen und vergleicht das Ergebnis mit dem Vor-Corona-Stand von 2019, so beträgt der Zuwachs aller Voraussicht nach insgesamt kaum mehr als einen Prozentpunkt. Es herrscht also faktisch Stagnation.

Die Erklärungen dafür sind so disparat wie die Interessenlagen: Für die einen sind die Löhne zu hoch und die Gewinne der Unternehmen zu niedrig, so dass Investitionen ausbleiben. Andere sehen die Schuld beim Staat, denn der gebe zu viel Geld für Sozialleistungen und für Zinsen aus, so dass für Zukunftsinvestitionen kein Geld mehr zur Verfügung stehe. Nicht selten wird auch mit dem Fachkräftemangel argumentiert, mit steigenden Rüstungsausgaben, mit der Inflation oder mit dem Sparverhalten der Bevölkerung. Im Fokus der politischen Debatten stehen zudem die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) und die Finanzpolitik der Bundesregierung, die wesentlich von der FDP und Bundesfinanzminister Christian Lindner bestimmt wird.

Blickt man analytisch auf die ökonomischen Daten, so zeigt sich, dass es 2023 beim privaten Konsum und beim Staatsverbrauch gegenüber dem Vorjahr jeweils einen Rückgang um 0,4 Prozent gab. Bei den Investitionen überwog ein Zustand der Stagnation, wobei die Ausrüstungsinvestitionen leicht angestiegen, die Bauinvestitionen aber eingebrochen sind. Einzig der Außenbeitrag der deutschen Volkswirtschaft ist um 0,6 Prozent gestiegen und kompensierte damit saldenmechanisch zu einem Teil den Rückgang bei den anderen Nachfragekomponenten.

Die Sparquote ist mit 11,3 Prozent weiterhin überproportional hoch, was auf eine Verunsicherung der Bevölkerung in Bezug auf die erwartete künftige Wirtschaftsentwicklung hindeutet. Die Löhne sind zuletzt zwar nominell kräftig angestiegen, 2023 zum Beispiel um 5,3 Prozent, ausschlaggebend ist aber die Reallohnentwicklung, also der Anstieg bei Berücksichtigung der Kaufkraftentwicklung oder Inflation. Und hier sieht die Rechnung anders aus: Die Inflationsraten lagen (gemessen am Verbraucherpreisindex) in den Jahren 2021, 2022 und 2023 bei 3,1, 6,9 und 5,9 Prozent. Für das laufende Jahr wird mit einer Inflationsrate von 2,2 bis 2,5 Prozent gerechnet. Das entspricht einem kumulativen Preisniveauanstieg seit 2020 von rund 20 Prozent. In Anbetracht dessen sind die Lohnsteigerungen durchaus angemessen, denn im Durchschnitt wurden lediglich die inflationär verursachten hohen Kaufkraftverluste ausgeglichen.

Trotz des Einkommensanstiegs sind die Armutsquoten weiter gestiegen. Und zwar besonders bei Rentnern und Pensionären, wie eine Analyse der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik zeigt. Danach bezogen im Jahr 2022 16,7 Prozent aller Haushalte ein Einkommen, das unter der Armutsschwelle lag. Gegenüber 2010 bedeutet dies eine Zunahme der einkommensschwachen Haushalte um 15,2 Prozent, bei Rentnern und Pensionären aber um 43,7 Prozent.

Betrachtet man daraufhin die Reaktionen der Politik, so erscheint ein differenziertes Urteil angebracht: Die EZB hat auf die im Sommer 2021 einsetzende Inflation etwas spät, letztlich aber durchaus richtig reagiert, nämlich mit einer in zehn Schritten erfolgten Anhebung der Leitzinsen. Das Zinsniveau (für das Hauptrefinanzierungsgeschäft) liegt seit 20. September 2023 bei 4,5 Prozent. Dies hat zu einer Dämpfung der konjunkturellen Entwicklung und damit indirekt zu einem Rückgang der Inflation beigetragen. Damit es nicht zur Rezession kommt, hätte hierauf finanzpolitisch reagiert werden müssen. Dass dies in Deutschland nicht passiert ist und man hier trotz radikal veränderter Rahmenbedingungen konsequent an der „Schuldenbremse“ festhält, ist nicht Schuld der EZB, sondern allein von der Finanzpolitik zu verantworten. Indem sie kreditfinanzierte Investitionen des Staates (in Bildung und Forschung, Klimaschutz, Wohnungsbau und Infrastruktur) blockiert, verhindert sie Wirtschaftswachstum und eine stabile und zukunftsbezogene Entwicklung.

Momentan sind es in der Bundesrepublik nur die Rüstungsausgaben, die signifikant wachsen und damit eine minimale wirtschaftliche Dynamik generieren. Ansonsten wird überall gespart und werden überfällige Zukunftsinvestitionen zurückgehalten oder eingefroren. Zudem drohen, sofern die durch die Inflation verursachten Kaufkraftverluste nicht für alle Einkommensgruppen ausgeglichen werden, ein massiver Sozialabbau und ein Wohlstandsverlust mit absehbaren politischen Verwerfungen. Dem sollte durch eine reformierte Schuldenbremse und eine weniger restriktive Finanzpolitik begegnet werden.

Im zweiten Halbjahr, wenn die Inflation besiegt sein wird, erscheint auch wieder eine das Wirtschaftswachstum fördernde Geldpolitik möglich. Aber selbst, wenn dies gelingen sollte, wären fünf Jahre wirtschaftliche Stagnation eine schwere Belastung für den Standort Deutschland und eine unverhältnismäßig hohe Bürde für die Zukunft.