27. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2024

Kant 300

von Mathias Iven

Immer wieder haben Philosophen in der Vergangenheit versucht, unserem Denken und Handeln auf den Grund zu gehen. Es wurden Systeme entworfen und Positionen entwickelt, das Für und Wider von Argumenten wurde abgewogen – doch das allein genügte und genügt nicht. Nur wenige der großen Denker haben es in den letzten zwei Jahrtausenden vermocht, in den Lauf der Welt einzugreifen und Denkanstöße zu liefern, die die Welt revolutionierten. Einer von ihnen war Immanuel Kant, geboren am 22. April 1724 in Königsberg.

Denken wir an seine bedeutendsten Werke: die Kritik der reinen Vernunft (1781), die Kritik der praktischen Vernunft (1788) und die Kritik der Urteilskraft (1790) – wobei der Begriff „Kritik“ von Kant immer sowohl im Sinne einer Grundlegung als auch einer Infragestellung verstanden wurde. Und rufen wir uns schließlich die vier von ihm formulierten, wiederholt in seinen Schriften vorgebrachten und einen jeden von uns betreffenden Fragen in Erinnerung: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?

Am 30. und 31. Mai 2023 trafen sich der an der New School for Social Research in New York lehrende Philosoph Omri Boehm und der Schriftsteller Daniel Kehlmann im Gartenhaus des Ullstein Verlages in Berlin, um über all diese Fragen zu diskutieren. Ihr Gespräch, das im Nachhinein verschriftlicht und von beiden überarbeitet wurde, kreiste um die Themenbereiche Gesellschaft, Politik, Religion, Kunst und Wissenschaft sowie Erkenntnistheorie und Ethik. Zusammenfassend schreibt Kehlmann dazu: „[W]ir weisen Kant keine Stelle zu, wir würdigen ihn nicht, und wir sprechen auch nicht von ,der Gegenwart‘, sondern von uns. Wir versuchen, Kant aus seinen eigenen historischen Voraussetzungen zu verstehen […].“ Das für den Titel des Buches von den Gesprächspartnern programmatisch ausgewählte Zitat, das auf den Kern von Kants Philosophie verweist, stammt aus der Kritik der praktischen Vernunft und lautet vollständig: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.“

Greifen wir nur zwei Punkte der äußerst spannenden Unterhaltung heraus. Eine der aus heutiger Sicht größten Leistungen Kants sei es, so Kehlmann, dass er „das Problem der Kunst gelöst hat“. Kant, der eigentlich nicht besonders kunstinteressiert war, habe mit seiner Kritik der Urteilskraft „das wichtigste Werk der Kunsttheorie überhaupt“ vorgelegt. Und Kehlmann geht mit seiner Einschätzung noch weiter: „Ich behaupte, sehr viele zeitgenössische Diskussionen im Bereich der Kunst und Kultur wären sofort überflüssig, wenn die Beteiligten nur die Kritik der Urteilskraft genau lesen würden.“

Omri Boehm, der am 20. März mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2024 ausgezeichnet wird, geht es vor allem um den Begriff der Aufklärung. Er sagt dazu: „Anders als bei Tieren ist das Heranreifen eines Menschen eine Leistung, die von uns abhängt – sie fällt in unsere Verantwortung. Das ist der Schlüssel zur Idee der Aufklärung.“ Und an anderer Stelle verweist er auf Kants im September 1784 geschriebenen und drei Monate später in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlichten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“, „der sich ganz um die Kritik und das Denken dreht, auf dramatische Weise sapere aude! gefordert, und was man aus diesem Text erinnert, ist die Aufforderung, den Mut zu haben, zu wissen“.

Da es gerade dieser Aufsatz ist, der auch nach mehr als 200 Jahren nichts von seiner Aktualität verloren hat, sei es an dieser Stelle gestattet, Kant abschließend selbst zu Wort kommen zu lassen. Er beginnt mit den berühmt gewordenen Worten: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Und unmittelbar daran anschließend – und meist überlesen! – heißt es: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen […] dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“

Heutigentags entschwinden die großen Denker leider nur allzu oft unseren Blicken. Geht es der akademisch betriebenen und als intellektuelle Praxis verstandenen Philosophie doch weniger um Personen als um „griffige“ Themen. Kehlmann und Boehm haben sich mit ihrer Darstellung bewusst dagegen entschieden. Herausgekommen ist eine zwar nicht gerade leichte Einführung in Kants Werk, aber ein dennoch höchst empfehlenswerter Beitrag zum Jubiläumsjahr.

 

Omri Boehm und Daniel Kehlmann: „der bestirnte himmel über mir“. Ein Gespräch über Kant, Übersetzungen aus dem Englischen von Michael Adrian, Propyläen Verlag, Berlin 2024, 349 Seiten, 26,00 Euro.