27. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2024

Ostdeutsche Osteuropaforschungen

von Erhard Crome

Im Nachruf auf Wolfgang Geier (Blättchen 2/2024) hatte ich darauf verwiesen, dass maßgeblich durch ihn unter dem Dach der Kultursoziologie eine Fortführung der renommierten Leipziger Osteuropaforschung möglich gemacht worden war.

Die Entwicklung der Sowjetunion galt den deutschen Kommunisten schon vor 1933 als Zielorientierung, erst recht der SED nach der Zerschlagung des Hitler-Reiches. Ein beträchtlicher Teil der deutschen Osteuropaforschung vor 1945 war mit ihrer Indienstnahme durch die Kriegs- und Besatzungspolitik Nazideutschlands diskreditiert. Der Neuaufbau vor allem an den Universitäten Leipzig und Halle sowie in Berlin erfolgte durch Historiker sowie Literatur- und Sprachwissenschaftler, die Kommunisten und in der sowjetischen Emigration oder inhaftiert waren, so in Berlin Wolfgang Steinitz und später Stefan Doernberg. in Leipzig Walter Markov und Basil Spiru.

Markov und Spiru – eigentlich Josef Hutschneker – stammten aus Österreich-Ungarn und brachten die sprachliche und interkulturelle Osteuropa-Kompetenz „schon von Zuhause mit“, umgangssprachlich gesagt. Osteuropaforschung war einerseits Zeitgeschichtsforschung, andererseits Sprach- und Literaturwissenschaft sowie landeskundlich orientiert. Die Landes- und Regionalhistoriker beherrschten in der Regel die entsprechenden Sprachen, die Literaturwissenschaftler verfügten über profunde Kenntnisse der Landesgeschichte.

Eine eher auf die politische Geschichte ausgerichtete Beschäftigung entwickelte sich erst allmählich. Da sie nach außen als Fortsetzung der marxistisch-leninistischen Gesellschaftsdarstellung erschien, unterlag sie stets besonderer Beobachtung. Seit Ende der 1940er Jahre waren nicht nur die Berichte über die Erfolge des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion, sondern ebenfalls in den „volksdemokratischen“ Ländern Momente der Propagierung der sozialistischen Zukunft auch für die DDR.

Der 17. Juni 1953 wurde als westliches Störmanöver und als „faschistischer Putsch“ interpretiert. Mit den Volksaufständen in Polen und Ungarn 1956 war es schwieriger. Die ordnete Walter Ulbricht den Fehlentwicklungen des Stalinismus zu. In den 1960er Jahren meinte die SED-Führung, jede regierende kommunistische Partei wüsste am besten, wie sich ihr Land entwickelt. Damit schien eine eigenständige Osteuropaforschung in der DDR unnötig, es reiche, sich von den Bruderparteien informieren zu lassen. Das war dann durch den „Prager Frühling“ 1968 desavouiert. Nun wurde in der DDR zielgerichtet eine eigene Osteuropa-Forschung etabliert. Das Institut für Internationale Beziehungen in Babelsberg beschäftige sich mit Politik und Außenpolitik, das Institut/die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED in Berlin befasste sich mit der Entwicklung der respektiven kommunistischen Parteien, die Universitäten in Leipzig und Halle sowie Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften beforschten die Geschichte, vor allem die Zeitgeschichte seit 1917 beziehungsweise nach 1945 sowie Literatur- und Kulturgeschichte. Außerdem hatten die Staatliche Plankommission, das Ministerium für Außenhandel sowie die rechtswissenschaftlichen Institute an der Akademie der Wissenschaften und an der Akademie für Staat und Recht in Babelsberg eigene Forschungseinrichtungen, die sich mit den anderen sozialistischen Ländern beschäftigten.

In den 1980er Jahren wurde ein zentraler „Rat für Sozialismusforschung“ eingerichtet, institutionell an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften angesiedelt, in den alle relevanten Institutionen eingebunden waren, personell und institutionell. Dadurch wurde ein regelmäßiger Austausch in Bezug auf die verschiedenen Analyse-Perspektiven organisiert und es gab Synergieeffekte. Für interne Studien und Analysen war alles wissenschaftlich Begründete schreibbar und intern sagbar. Bei Publikationen mussten die ideologischen Vorgaben beachtet werden.

Das änderte sich etwas in der Andropow-Zeit (1982-84) und mit Gorbatschow (nach 1985), als in der Sowjetunion viele kritische Artikel insbesondere zur wirtschaftlichen und sozialen Situation im Lande erschienen. Die Zeitschrift Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge publizierte etliche davon in deutscher Übersetzung. Darauf konnten sich Autoren beziehen, mussten sich aber weiter mit den parteipolitischen Begrenzungen auseinandersetzen, die die SED-Führung gegenüber Gorbatschow errichtet hatte. Kurzum, es gab eine Osteuropaforschung in der DDR, die sachkundig realisiert wurde. Deren Resultate, die vor allem in internen Studien zum Ausdruck kamen, waren jedoch für die breite Öffentlichkeit nicht sichtbar; die öffentlich publizierten Texte dagegen erschienen oft als Ideologieproduktion.

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Die geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Strukturen der universitären und außeruniversitären akademischen Arbeitsbereiche der DDR wurden nach der deutschen Vereinigung 1990 zügig zerschlagen. Diese „Abwicklung“ war „ein ideologisch-politisch-rechtlich begründeter administrativer Vorgang“, der bedeutete, „dass geistes- oder gesellschaftswissenschaftliche universitäre, akademische und hochschulische Strukturen jener Wissenschaftsbereiche, die offiziell ideologische und politische Bezeichnungen trugen bzw. denen eine Nähe zur Ideologie und Politik der SED und DDR angelastet wurde, zunächst ersatzlos aufgelöst und später teilweise durch Neugründungen ersetzt wurden.“ (Wolfgang Geier) Die wissenschaftlichen Mitarbeiter wurden entlassen oder befristet übernommen, um sie später zu entlassen, Hunderte wurden arbeitslos, wissenschaftliche Qualifikationen entwertet.

Wolfgang Geier (1937-2023), der nicht als politisch belastet galt, agierte Ende 1990/ Anfang 1991 geschickt in dem Interregnum, da die „alten Herren“ weg und die neuen noch nicht da waren. Er nahm die „Kultursoziologie“ als Fach ernst, um sie im Sinne eines Curriculums als Lehrfach zu etablieren; das hatte es weder in der DDR noch in der alten BRD gegeben. So initiierte er die Neugründung universitärer Strukturen an der Universität Leipzig, um die vorherigen kulturwissenschaftlichen Tätigkeiten in Lehre und Forschung fortzusetzen, besonders auch für die immatrikulierten Studierenden und Promovenden, und um die personellen Potenzen und Kompetenzen der bisherigen Mitarbeiter zu erhalten.

Zugleich wurden mit der Gesellschaft für Kultursoziologie e.V. Leipzig, die auch die Zeitschrift Kultursoziologie herausgab, außeruniversitäre Möglichkeiten der weiteren Arbeit geschaffen. Um die „Abwicklung“ der aus der DDR kommenden Sozial- und Geisteswissenschaftler sozial etwas abzufedern und laute öffentliche Proteste gegen die Politik zu verhindern, wurde das alte BRD-Arbeitsmarktinstrument der „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ (ABM) auf den Osten, vor allem auch auf diesen Bereich ausgedehnt und finanziell reichlich ausgestattet. Diese Mittel konnten an als gemeinnützig anerkannte Vereine gegeben werden, um geeignete arbeitslos gewordene Personen in gemeinnützigen Tätigkeiten zu beschäftigen – wobei allen Beteiligten klar war, dass daraus in Zukunft keine wissenschaftliche Arbeit folgen würde, sondern lediglich ein Einkommensverhältnis für eine begrenzte Zeit: Bei Älteren, um dann in Rente zu gehen, bei Jüngeren, um sich in ein anderes Tätigkeitsfeld außerhalb der Wissenschaft zu fügen. Die Gesellschaft für Kultursoziologie, wie viele andere Vereine im Osten, nutzte diese Möglichkeit. Zu den Projekten gehörten empirische Untersuchungen zum kulturellen Umbruch in Ostdeutschland, die Evaluierung von Vorhaben der kulturellen Bildung, die multikulturelle Arbeit in ostdeutschen Kommunen, Gemeinschaften in Leipzig sowie Jugend im Dorf. Die AB-Maßnahmen liefen 1994/95 aus. In den Mittelpunkt der Tätigkeit der Gesellschaft und der Zeitschrift rückten nun historische und aktuelle Themen der vergleichenden (Kultur-)Geschichte Südost-, Ost- und Ostmitteleuropas.

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Anfang 1992 wurde eine Sektion Osteuropaforschung der Gesellschaft für Kultursoziologie gegründet, zunächst als Projektgruppe auf ABM-Basis mit dem Titel: „Tradition, Situation und Wandel in Osteuropa“. Spiritus rector der Sektion war Ernstgert Kalbe (1931-2015). Der hatte 1951 bis 1955 Geschichte und Bulgaristik in Leipzig studiert, 1960 bei Basil Spiru promoviert und 1971 bei Walter Markov habilitiert. Er war von 1955 bis 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Hochschullehrer, seit 1972 als ordentlicher Professor und Leiter des Lehrstuhls und Wissenschaftsbereiches für Geschichte der Länder und Völker Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas an der Leipziger Universität tätig. 1994 wurde die unter seiner Leitung stehende Sektion zugleich der Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V. Leipzig zugeordnet.

Wichtige Form der wissenschaftlichen Verständigung waren regelmäßige Kolloquien, die Kalbe organisierte und koordinierte. Das erste fand im Mai 1992 statt zum Thema: „Ursachen nationaler Identitätssuche und nationaler Konflikte in Osteuropa“ (Referent Ernstgert Kalbe), das zweite im Juni 1992 zum Thema: „Deutsche Sichtweisen auf nationale Konflikte in Osteuropa – Argumente oder Ignoranz?“ (Referent Wolfgang Geier). Im November 1992 referierte wieder Kalbe über „Das ehemalige Jugoslawien im Konfliktfeld von serbischem Hegemonismus und nationalem Partikularismus“ – das war die Zeit, da die Zerfallskriege Jugoslawiens begannen. Im Februar 1993 folgte: „Methodologische Aspekte vergleichender Osteuropaforschung“ (Erhard Crome).

Um die Breite der Themen und Referenten deutlich zu machen, seien exemplarisch einige weitere Kolloquien erwähnt, so 1995: Zum Karabach-Konflikt (Sarkis Latchinian, Leipzig); Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt in historischer Bewertung (Helga Watzin-Heerdegen, Leipzig); Der Kalte Krieg und sein Ende (Karl Drechsler, Berlin); Das Verhältnis der Westmächte und der Sowjetunion zu Polen und der Tschechoslowakei (Eva Seeber, Leipzig); Zur sozial- und kulturgeschichtlichen Identität der Ukraine (Britta Böhme, Leipzig). 1996: Leipzigs Beziehungen zur russischen Kultur und Wissenschaft (Erhard Hexelschneider, Leipzig); Zur Haltung der „Narodniki-Parteien“ zum Agrarkurs der russischen Regierung nach 1906 (Sonja Striegnitz, Berlin); Bulgarisches Nationsverständnis und nationale Politik im 19./20. Jahrhundert (Kalbe); Das Ostjudentum. Historische und aktuelle Aspekte (Karl-Heinz Gräfe, Dresden); Politische Konstellationen im ungarischen Wandel (Crome); Zur Herausbildung und Entwicklung der ukrainischen Nationalbewegung im 19./20. Jahrhundert (Claus Remer, Jena); Vom Umgang zwischen Schriftstellern und Machthabern als Indiz für Kulturwandel. Von Bulgakow bis Makanin (Willi Beitz, Leipzig); Ethnogenese, Chistianisierung und Staatenbildung in Osteuropa (Geier).

Leipzig war durch Ernstgert Kalbe und Wolfgang Geier nach dem Ende der DDR zum alternativen Zentrum der weiteren wissenschaftlichen Befassung mit Osteuropa in Ostdeutschland geworden. Es waren vor allem die abgewickelten Forscher, die es nicht lassen konnten und weiter jene Themen verfolgten und bearbeiteten, mit denen sie sich auch vor 1990 befasst hatten. Etliche waren inzwischen Rentner, einige hatten noch eine universitäre Anbindung, andere verdienten sich ihr Brot außerhalb der Wissenschaft, aber betrieben diese nach Maßgabe ihrer Kräfte weiter. Durch die regelmäßigen Treffen und Diskussionen in der Leipziger Sektion entstanden neue Anregungen und Synergieeffekte für die weitere Arbeit. Ab 1994 wurden die Texte der Vorträge und Beiträge in der Schriftenreihe „Osteuropa in Tradition und Wandel“ publiziert, die ab 1999 als „Leipziger Jahrbücher“ erschien. Sie enthielten außer Aufsätzen und Studien auch Berichte und Dokumentationen, so zum Prager Frühling 1968 (1999) oder die deutsche Übersetzung des Memorandums der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste von 1986 über die „Krise der jugoslawischen Wirtschaft und Gesellschaft“ (2000). In gut sortierten Bibliotheken kann das alles auch künftig nachgelesen werden.

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In seinem Konzeptpapier für die Tätigkeit der Sektion hatte Kalbe 1992 die aus seiner Sicht erforderlichen Ausgangspunkte umrissen. Daran sind auch dreißig Jahre später drei Aspekte von Bedeutung. Erstens plädiert er für die Sicht auf ein „Osteuropa“ im Sinne der „historisch-geographischen Gesamtregion“, also (1) „das engere Osteuropa“: Russland zwischen Weißem und Schwarzem Meer, polnischem Tiefland und Ural als „ostslawisch-christlich-orthodoxe und europäisch-asiatische Kontaktzone“; (2) Ostmitteleuropa von Polen bis Ungarn als „römisch-christlich und westslawisch-deutsch-ungarisch geprägte Ost-West-Mittlerregion“; (3) Südosteuropa von Save und Donau über den Balkan bis ins Vorfeld Vorderasiens „als byzantinisch-christliche, islamisch-orientalische Überlagerungszone“ mit ihrer ethnischen Vielfalt.

Zweitens greife es zu kurz, die Probleme und Konflikte bei den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen ausschließlich als vom Scheitern des realsozialistischen Systems verursacht zu erklären. Zu den soziokulturellen und historisch-politischen Faktoren gehören: (1) die seit dem Mittelalter bestehende Diskrepanz von staatlicher und nationaler Existenzform zahlreicher Völker; (2) die verzögerte und unausgereifte sozialökonomische Entwicklung bürgerlicher Gesellschafts- und soziokultureller Infrastrukturen, wodurch agrarische Rückständigkeit und autokratische Herrschaftsstrukturen konserviert wurden; (3) die verspätete, erst im 19./20. Jahrhundert vollzogene Konstituierung nationaler Staatlichkeit, vielfach erst mit dem Versailler System bzw. den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam bestimmten Grenzen, die weniger nationalen als Großmachtinteressen folgten.

So war der Realsozialismus seit 1917 bzw. 1945 „der gescheiterte Versuch, historisch überkommene Rückständigkeit mit in Osteuropa geläufigem missionarischem Eifer und zentralistisch-etatistischem Instrumentarium zu überwinden“. Mit der staatlichen Planung wurden durchaus Modernisierungseffekte erzielt, aber „geschichtlich bedingte Rückstände [konnten] nicht einfach kompensiert oder übersprungen werden“.

Das gilt auch für die Überspringungskonzepte, die der Westen seit dreißig Jahren in Osteuropa zu implementieren versucht. Wäre die neu formierte Osteuropaforschung, nicht nur in diesem Gesamtdeutschland, einem solchen Forschungsansatz gefolgt, hätte man in Berlin, Brüssel und anderswo nicht immer wieder aufs Neue Probleme, Positionierungen aus Budapest, Warschau oder Bratislava zu verstehen.