In der „Freundesgabe“ für den wandernden Landschafter ist auffällig oft von der Elsbeere die Rede. „Der Dichter war bei seinen Schreibklausuren in Vollradisroda“, lesen wir im Vorwort, „auf die Elsbeere aufmerksam geworden: ein langsam wachsendes, gegen Wetterunbill gefeites Gewächs mit extrem hartem Holz, leuchtend rotem Herbstkolorit und schmackhaften Früchten, wärmeliebend, sommergrün, aufrecht, selten.“ Von diesem Baum sprach der 2022 verstorbene Dichter Wulf Kirsten so ausgiebig, dass er und seine Freunde Wolfgang Haak, Michael Knoche und Christoph Schmitz-Scholemann daran dachten, über die „Schöne Else“– wie ein Kirsten-Gedicht heißt – ein Buch zu schreiben.
Das „Elsbeer-Quartett“, nunmehr als Terzett agierend, gab stattdessen einen durch namhafte bildende Künstler wie Ulrich Panndorf und Walter Sachs bereicherten Erinnerungsband von Format heraus: Vierzig Beiträger kommen knapp zu Wort, Bibliothekare, Bildende Künstler, Buchmacher, Publizisten, Lektoren, Wissenschaftler, Übersetzer, selbstredend Dichterfreunde, darunter die Büchner-Preisträger Jürgen Becker, Volker Braun und Lutz Seiler. Da der in Sachsen geborene Kirsten, Ehrenbürger seines Heimatortes Klipphausen, seit 1965 in Weimar gelebt hat, ist es nicht verwunderlich, dass Stimmen aus Mitteldeutschland hier dominieren.
Der vielstimmige Band – versehen mit einem tollen Cover, einem Schwarz-Weiß-Porträtfoto von Dirk Skiba – zeigt eindringlich, dass der Jenaer Ehrendoktor Wulf Kirsten in ganz Deutschland und darüber hinaus Spuren hinterlassen hat: Er war gern gesehener Gast im stets ausverkauften Münchner Lyrikkabinett, als Stadtschreiber lebte er in Dresden, Salzburg und Bergen Enkheim. Gedichte des Kölners Jürgen Becker („Stimme und Spur“) und des Berliners Michael Krüger („Das letzte Telefongespräch“) umrahmen das Bändchen. Mehrfach durfte sich Kirsten in den „alten Bundesländern“ für bedeutende Literaturpreise bedanken.
Karl Corino lud ihn zu einem – spärlich besetzten – Stammtisch für „schreibende Bauern“ ein und Ralph Schock (vom Saarländischen Rundfunk) interviewte den Dichter, als im Jahre 2004 „seine“ Bibliothek brannte. Das Honorar, erinnert sich Schock, habe der Dichter für den Wiederaufbau der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar gespendet.
Sämtliche Arbeitsfelder Kirstens werden in dem Erinnerungsbüchlein beleuchtet: Lyrik, Prosa, Essayistik, Lektorat, Editionen. Gern nannte er sich einen „Anthologisten“.
In und nach dem Umbruch 1989 erlebten wir den Poeten kurzzeitig gar als Weimarer Stadtpolitiker. Wie kaum ein anderer hat sich Wulf Kirsten als Lektor und Kollege um jüngere Dichterinnen und Dichter gekümmert, um Harald Gerlach und Annerose Kirchner etwa. Letztere meldet sich hier zu Wort. In seiner Kritik konnte Kirsten unerbittlich sein – niemals redete er um den heißen Brei herum. Bei Poeten mit Talent freute er sich gemeinsam über Gelungenes.
Die Jahre im Lektorat des Aufbau-Verlages waren für Kirsten eine Stil-Schule, ein Zuckerschlecken waren sie nicht. Immer wieder berichtete er, wie sehr und wie lange er sich beispielsweise mit der 18-bändigen Becher-Ausgabe gequält hatte. Der Verlag erlitt mit diesem Großprojekt ein Defizit von 900.000 DDR-Mark, weiß Michael Knoche, der langjährige Direktor der Anna-Amalia-Bibliothek, zu berichten. Knoche ist es auch, der daran erinnert, dass es der im New Yorker Exil verbliebene bayrische Volksschriftsteller Oskar Maria Graf war, der die ersten lyrischen Versuche des werdenden Poeten ernst nahm.
In zwei Texten wird der Arbeitsplatz des Schwerstarbeiters und Viellesers in der Weimarer Paul-Schneider-Straße beschrieben. Vom Schreibtisch aus sah Kirsten täglich auf den „Berg über der Stadt – Zwischen Goethe und Buchenwald“ – so der Titel eines Fotobuches, das er mit seinem Freund Harald Wenzel-Orf erarbeitet hatte.
Jens Kirsten, ein Sohn des Dichters, blickt auf die gewaltige Bibliothek seines Vaters. Wenigstens die legendäre Lyriksammlung Wulf Kirstens, 65 geschätzte Regalmeter, kann erhalten bleiben: Sie wird in der Anna-Amalia-Bibliothek aufgestellt. Hier war Wulf Kirsten 57 Jahre lang der wohl treueste Leser.
Am 14. Dezember 2022 betrat Wolfgang Haak, Dichter und Lehrer, das Arbeitszimmer des gerade verstorbenen Freundes. In einem Langgedicht hält er minutiös seine Eindrücke fest. Schade, dass Haaks ergreifende Trauerrede, die er auf dem Historischen Friedhof zu Weimar vortrug, in dem Erinnerungsband fehlt.
Fast versteckt stand die Graphikerin Susanne Theumer unter den vielen Trauergästen. Ihre Tuschezeichnung „Kirschallee“ – auf Seite 25 leider nur im Kleinformat zu sehen – zeigt die Künstlerin im Gespräch mit Kirsten. Das Blatt entstand 2023 – da war ihr väterlicher Freund, den sie von hinten in den Blick nahm, schon nicht mehr unter den Lebenden…
Unterwegs mit Wulf Kirsten – Eine Freundesgabe. Herausgeben von Wolfgang Haak, Michael Knoche und Christoph Schmitz-Scholemann, Elsinor Verlag, Coesfeld 2023, 171 Seiten, 18,00 Euro.
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