27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Not one inch*

von Wolfgang Schwarz

Mary Elise Sarotte ist eine US-amerikanische Historikerin, die sich seit langem mit internationalen sicherheitspolitischen Problemen im Zusammenhang mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes im Jahre 1990 sowie mit der Vorgeschichte und dem Verlauf der frühen NATO-Osterweiterungen befasst. Einer der zentralen Streitpunkte in diesem Kontext gilt der Frage: Konnte die damalige sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow davon ausgehen, dass es nach Herstellung der deutschen Einheit keine Ostausdehnung der NATO in Richtung der sowjetischen Grenze geben würde? Eine völkerrechtlich verbindliche, schriftliche vertragliche Vereinbarung entsprechenden Inhaltes gibt es ja bekanntlich weder im Abschlussdokument der 2+4-Verhandlungen noch an anderer Stelle.

Sarotte hat dazu eingehend geforscht, sich in den USA intensiv um die Freigabe als geheim eingestufter Regierungsunterlagen bemüht und hatte schon Arbeiten dazu veröffentlicht, bevor 2021 ihre über 500-seitige Monographie erschien: „Not one inch. America, Russia, and the making of the post-cold war stalemate – Nicht einen Zentimeter. Amerika, Russland und die Entstehung der Sackgasse nach dem Kalten Krieg“).

Bereits im Jahre 2010 hatte die Süddeutsche Zeitung einen Namensbeitrag Sarottes mit folgender Zusammenfassung angeteasert: „Täuschen und Tricksen: Die USA und Deutschland ließen Russland Anfang 1990 in dem Glauben, nach der Wiedervereinigung werde die Nato nicht nach Osten erweitert.“ In diesem Beitrag hatte Sarotte auf eine Aussage des russischen Außenministers Sergej Lawrow aus dem gleichen Jahr verwiesen, dass am Ende des Kalten Krieges eine „politische Verpflichtung“ eingegangen worden sei, die NATO nicht zu erweitern. Leider habe es sich nur um mündliche Zusagen gehandelt, „aber sehr feste mündliche Zusagen“.

Anschließend fuhr Sarotte fort: „Mit dieser Sicht steht Lawrow nicht allein. Der ehemalige US-Botschafter in der Sowjetunion, Jack Matlock, zum Beispiel sagt, dass der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow die ‚eindeutige Zusage‘ bekommen habe, ‚dass die NATO-Grenzen nicht nach Osten verschoben würden, wenn Deutschland sich vereinigen und in der NATO bleiben würde‘“. Sarottes damaliges Fazit: „Haben die USA Russland also am Ende des Kalten Krieges betrogen? Die kurze Antwort lautet Nein. Bei den Verhandlungen kam nichts rechtlich Bindendes heraus […]. Eine längere Antwort auf diese Frage zeigt indes, dass es zwar keine juristische, aber eine informelle Grauzone gibt. Der Amerikaner Baker hat mit Gorbatschow über die Zukunft der NATO spekuliert. Aber es war der Deutsche Kohl, der ein wichtiges Zugeständnis von dem Sowjetpolitiker auf Basis von Bakers Spekulationen errang – obwohl er wusste, dass sich die Amerikaner untereinander nicht einig waren.“

In jüngster Zeit ist Sarotte mit einigen Äußerungen in die Öffentlichkeit gegangen, die, gelinde gesagt, Zweifel an ihrer Reputation als seriöse, ernstzunehmende Wissenschaftlerin provozieren. So stellte sie an den Anfang des Vorwortes zur gerade erschienenen gekürzten deutschen Ausgabe ihres Buches allen Ernstes die Behauptung, „dass Russlands Präsident Wladimir Putin die Anwendung von physischer und virtueller Gewalt […] auch zur ‚Feier‘ […] seines Geburtstages“ genieße. „Die Menschenrechtsaktivistin und Journalisten Anna Politkowskaja wurde auf dem Heimweg vom Ein­kaufen am 7. Oktober 2006 aus kurzer Entfernung niedergeschossen – an Putins Geburtstag. Die Verbreitung von gestohlenen Emails aus dem Präsi­dentschaftswahlkampf von Hillary Clinton fand am 7. Oktober 2016 statt – ebenfalls an Putins Geburtstag.“ Und: „Kurz vor seinem 70. Geburtstag versuchte Putin sich 2022 selbst mehr als 100 000 Quadratkilometer der Ukraine zu schenken.“ Da dürfte sich Sarotte in ihrer Überzeugung durch die jüngste Entwicklung im Nahen Osten nur noch bestätigt fühlen. Parteigänger mindestens im Geiste hat Sarotte dabei auch hierzulande. So erklärte eine namhafte deutsche Spitzenpolitikerin, das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 hänge „unmittelbar zusammen“ mit Russlands Ukraine-Krieg, und als Beleg dafür galt auch ihr die Koinzidenz mit Putins Geburtstag: „Das sind alles keine Zufälle.“

Deutlich schwerwiegender als derlei abstruses Orakeln sind jedoch offenkundige Falschaussagen Sarottes in Interviews, die sie kürzlich gegeben hat. Wiederum gegenüber der Süddeutschen Zeitung (22.09.2023) interpretierte sie den „Vertrag vom 12. September 1990 über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ (2+4-Vertrag): „Letztendlich steht schwarz auf weiß im Vertrag: […] die NATO darf sich erweitern. Moskau hat unterschrieben, ratifiziert und Milliarden für den Abzug [seiner Truppen vom Gebiet der früheren DDR – W.S.] kassiert.“ Fakt hingegen ist, dass im 2+4-Vertrag, dessen Wortlaut im Internet aufrufbar ist, der Begriff NATO gar nicht vorkommt, mithin auch kein Freifahrtschein für deren Ausweitung.

Darüber hinaus legte der 2+4-Vertrag in Artikel 5/Absatz 3 für das Territorium der DDR fest: „Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt.“ Auch das weiß Mary Elise Sarotte heute anders, besser: Im Interview mit der taz (24.09.2023) erläuterte sie, dass die 2+4-Verhandler sich auf eine Protokollnotiz zum Vertrag verständigt hätten: „Sie legte fest, dass ausländische NATO-Truppen die frühere deutsche Grenzlinie überschreiten durften, sofern dies nicht eine Verlegung genannt würde. Was als solche definiert werde, sollte die Regierung des vereinten Deutschlands entscheiden. Das gilt heute noch.“ Der Wortlaut der Protokollnotiz hingegen lautet lediglich: „Alle Fragen in bezug auf die Anwendung des Wortes ‚verlegt‘, wie es im letzten Satz von Artikel 5 Abs. 3 [des 2+4-Vertrages – W.S.] gebraucht wird, werden von der Regierung des vereinten Deutschlands in einer vernünftigen und verantwortungsbewußten Weise entschieden, wobei sie die Sicherheitsinteressen jeder Vertragspartei […] berücksichtigen wird.“ Letzteres übrigens betraf zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses auch die Sowjetunion und gilt heute für Russland als deren Rechtsnachfolger.

Ansonsten kann in Sarottes Buch nicht nur nachgelesen werden, wie Gorbatschow und dessen Mitstreiter in dem Glauben, die NATO werde nach Herstellung der deutschen Einheit nicht nach Osten ausgeweitet werden, gelassen, sondern vor allem auch warum und wie sie zunächst einmal in diesen Glauben versetzt wurden. Die Schlüsselrollen dabei spielten die damaligen Außenminister der BRD und der USA, Hans-Dietrich Genscher und James Baker.

Anfang 1990 ging es aus westdeutscher und US-amerikanischer Sicht vornehmlich darum, Gorbatschows Zustimmung in zwei zentralen Fragen zu erlangen: Er sollte eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten ebenso akzeptieren wie den vollständigen Verbleib des künftigen Deutschlands in der NATO. Genscher war dafür zur nachhaltigen Berücksichtigung sowjetischer Sicherheitsinteressen bereit und erläuterte seine Kernidee in einer Rede am 31. Januar 1990 an der Evangelischen Akademie in Tutzing – auf historischem Boden gewissermaßen: 1963 hatte Egon Bahr an gleicher Stelle Grundzüge einer neuen Ostpolitik vorgestellt. Genscher plädierte dafür, dass die NATO „eindeutig [erkläre]: was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben.“ Am 2. Februar 1990 war Genscher zu einem Blitzbesuch in den USA, um Baker zu überzeugen, dass es „notwendig“ sei, „den Sowjets zu versichern, die NATO werde ihr Bündnisgebiet nicht auf das Territorium der DDR oder irgendein anderes in Osteuropa ausdehnen“. Diesen Punkt trug Genscher auch auf einer gemeinsamen Pressekonferenz vor, und Baker widersprach nicht nur nicht, sondern fand seinerseits Gefallen an der Idee (siehe ausführlicher den Beitrag von Marc Trachtenberg, Blättchen-Sonderausgabe vom 3. April 2023). Nur wenige Tage später, am 9. Februar 1990, traf Baker mit Gorbatschow in Moskau zusammen, und was der US-Außenminister dabei in Gestalt einer Frage vortrug, bezeichnet Sarotte in ihrem Buch als „Schlüsselkonzept“: „‚Was ist für Sie vorzu­ziehen: Ein vereinigtes Deutschland außerhalb der NATO, selbstständig und ohne amerikanische Streitkräfte, oder ein vereinigtes Deutschland, das Verbindungen zur NATO hat, mit Zusicherungen, dass die Jurisdiktion der NATO sich nicht einen Schritt weiter nach Osten von ihrer jetzigen Posi­tion verschiebt?‘ Der sowjetische Staatschef antwortete, dass ‚eine Aus­dehnung der NATO-Zone inakzeptabel ist‘. Laut Gorbatschow antwortete Baker: ‚Wir stimmen dem zu.‘“ Auf seiner anschließenden Pressekonferenz habe Baker dann wiederholt, die Jurisdiktion der NATO werde „nicht nach Osten vorgeschoben“.

Wenig später allerdings, so Sarotte, schwor der damalige US-Präsident Bush Senior, der sicherheitspolitische Rücksichtnahmen auf Moskau für überflüssig hielt („Zum Teufel damit!“), Baker auf eine gänzlich andere Linie ein, die spätestens von da an durch Washington (und auch durch den deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl) gefahren wurde: Die deutsche Vereinigung sollte so über die Bühne gehen, dass sich daraus keine Hemmnisse oder Einschränkungen dafür ergaben, osteuropäische Staaten wie Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei, die zum damaligen Zeitpunkt noch dem Warschauer Vertrag angehörten, künftig in die NATO zu integrieren; Moskau sollte von dieser Linie möglichst keine Kenntnis erlangen.

Das Kalkül ging bekanntlich auf. Nicht zuletzt, weil Gorbatschow, folgt man Sarotte, die möglichen langfristigen sicherheitspolitischen Implikationen einiger Arrangements mit dem Westen, auf die er sich einließ, einerseits selbst nicht realisierte und weil er andererseits kritische Stimmen aus seinem Umfeld wie die des Deutschlandexperten Valentin Falin nicht zum Tragen kommen ließ. So akzeptierte Gorbatschow schließlich, dass das künftige Deutschland Vollmitglied der NATO bleiben könne. Der 2+4-Vertrag sparte diese Frage zwar aus, sorgte aber mit Artikel 5, Absatz 3 sowie der zusätzlichen Protokollnotiz im Hinblick auf das Gebiet der DDR zumindest dafür, dass auch ausländische NATO-Streitkräfte die Grenzlinie des Kalten Krieges in Zukunft passieren durften. Robert Zoellick, einer der damaligen Berater Bakers und nachmals Chef der Weltbank, rekapitulierte später: „Wir mussten diese Möglichkeit sicherstellen, weil wir, falls Polen […] der NATO beitrat, in der Lage sein wollten, US-Truppen durch Ostdeutschland zur Stationierung nach Polen zu bringen.“

All dies zeichnet Sarotte minutiös nach und gibt im Anschluss eine zutreffende sicherheitspolitische Bewertung des Tages der deutschen Einheit ab: „Am 3. Oktober 1990 konnte Deutschland sich wie geplant vereinigen. Die volle Jurisdiktion der NATO, einschließlich Artikel 5, ging sofort auf das ganze ostdeutsche Gebiet über. Das Bündnis hatte mit der Osterweite­rung begonnen.“

Wer, wie der Rezensent, bisher einer Auffassung zugeneigt war, wie sie Sarotte in ihrem SZ-Interview von 2010 vertreten hatte, dass nämlich am Ende des kalten Krieges kein vorsätzlicher Betrug Washingtons gegenüber Moskau im Spiel gewesen ist, der findet in ihrem Buch mehr als nur Anhaltspunkte, um seine Ansicht mindestens kritisch zu überprüfen.

 

* – Am 9. Februar 1990 sprach der damalige US-Außenminister James Baker gegenüber Gorbatschow in Moskau von „assurances that NATO’s jurisdiction would not shift one inch eastward from its present position“ („Zusicherungen, dass sich die Zuständigkeit der NATO keinen Zentimeter von ihrer derzeitigen Position nach Osten verlagern würde“).

 

Mary Elise Sarotte: Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung, C.H. Beck, München 2023, 397 Seiten, 28,00 Euro.