Die Parabel „Farm der Tiere“ und der Roman „1984“, eine Schreckensutopie über das Leben in einer totalitären Gesellschaft, sind zwei der meistgelesenen Bücher des 20. Jahrhunderts. Sie stammen von dem Briten Eric Arthur Blair alias George Orwell, geboren am 25. Januar 1903 in Indien. Bereits in seinem Romandebüt „Erledigt in Paris und London“ zeigt sich der Autor politisch motiviert; kritisch beschäftigt er sich darin mit dem Leben von Obdachlosen, zu denen er als junger Mann selbst zeitweise gehört hatte. „Animal Farm“ erscheint 1945, vier Jahre darauf „1984“. George Orwell stirbt im Alter von 46 Jahren 1950 in London an Tuberkulose.
Im Anaconda Verlag, der vornehmlich Literaturklassiker veröffentlicht, erschienen vor wenigen Monaten drei Bände von Orwell im Schmuckschuber. Die beiden bekanntesten Bücher und ein von Heike Holtsch neu übersetzter Band mit Essays.
„Fast alles, was man über Politik wissen muss, steht meiner Ansicht nach bei George Orwell.“, urteilte Harald Martenstein über die Texte. Die Essays stammen aus den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
„Eine Hinrichtung“ (1931) und „Einen Elefanten erschießen“ (1936) reflektieren über seine Zeit im kolonialen Polizeidienst in Burma. „Erinnerungen an einen Buchladen“ (1936) berichtet über seine Anstellung als Buchhändler in einem Antiquariat im Londoner Stadtteil Hampstead.
Die folgenden Texte werden offen politischer: „Rezension zu Adolf Hitlers Mein Kampf“ (1940), „Mein Land von rechts und links“ (1940), „Faschismus und Demokratie“ (1941). Einerseits sieht Orwell bei Hitler in der englischen Ausgabe „unbeholfenes Geschreibsel“ andererseits dessen „gewisse Anziehungskraft“, die „überwältigend sein muss, wenn man seine Reden hört“. Als demokratischer Sozialist verteidigt Orwell die bürgerliche Demokratie gegen Angriffe von links und rechts und vornehmlich gegenüber einem faschistischen Totalitarismus. Mit dem bemerkenswerten Satz „Einer der bequemsten Zeitvertreibe der Welt ist die Verunglimpfung der Demokratie“, beginnt er seinen großen Essay über Faschismus und Demokratie. Er kommt zu dem Schluss: „Eine bourgeoise Demokratie ist nicht genug, aber sie ist wesentlich besser als der Faschismus und gegen sie zu arbeiten bedeutet, den Ast abzusägen, auf dem man sitzt.“
Die „Rückblicke auf den Spanischen Bürgerkrieg“ (1943) erinnern an Orwells Kampf in den internationalen Brigaden auf Seiten der Republikaner, in dem er schwer verletzt wurde. Sein Einstieg ist olfaktorisch, er beschreibt drastisch, was Kriege bedeuten. „Gräueltaten“ sieht er auf beiden Seiten und in allen Kriegen. Außer Frage stehe allerdings, „dass diejenigen, die man im Allgemeinen als die ‚Weißen‘ bezeichnet, weitaus mehr und schlimmere Gräueltaten begehen als die ‚Roten‘.“ Ein zentraler Punkt ist seine Auseinandersetzung mit der „Wahrheit“ der historischen Darstellungen über den Bürgerkrieg. Propagandalügen sieht Orwell auch hier allseits. Er beschreibt seinen „Albtraum von einer Welt, in der ein Führer oder eine herrschende Clique nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit kontrolliert“. Diese Passagen wirken wie eine Vorwegnahme des Ministeriums für Wahrheit im Roman „1984“. Der spanische Bürgerkrieg ist für Orwell im wesentlichen Ausdruck des (internationalen) Klassenkampfs. Der Putschist Francisco Franco konnte siegen, weil der Kriegsausgang in London, Paris, Rom und Berlin entschieden worden sei. Die Auseinandersetzungen innerhalb der republikanischen Seite und auch seine eigenen leidvollen Erfahrungen zwischen sogenannten Trotzkisten, Anarchisten und Stalinisten spart er nicht aus.
Von großer Aktualität erscheinen die Texte „Antisemitismus in Großbritannien“ und „Überlegungen zum Nationalismus“ (beide 1945). Orwell beschreibt alltäglichen, nicht gewalttätigen Antisemitismus, der sich irrational aus Vorwänden, Vorurteilen und Verschwörungsbehauptungen speist, geht auf den arabischen Antisemitismus in Palästina ein. Er rekapituliert antisemitistische Äußerungen in Werken von Shakespeare, Thackeray, George Bernhard Shaw, H. G. Wells, T. S. Elliot und Aldous Huxley. Antisemitismus versteht er als eine Form von Nationalismus. Eine Heilung von der Krankheit Antisemitismus, die es wissenschaftlich zu erforschen gelte, erkennt er in der Überwindung des Nationalismus.
Im großen Essay zum Nationalismus – erstmals 2020 auf Deutsch erschienen – trennt er zunächst Patriotismus, den er positiv sieht, vom Nationalismus. In nationalistischem Gedankengut findet er drei von ihm ausführlich beschriebene Charakteristiken: Besessenheit, Instabilität und Verkennen der Realität. Sein Begriff des Nationalismus ist nicht mit üblichen Definitionen von Nation und Nationalismus in Übereinstimmung zu bringen. Den Nationalismus klassifiziert er als Positiven Nationalismus (Neo-Toryismus, keltischer Nationalismus, Zionismus), Übertragenen Nationalismus (Kommunismus, politischer Katholizismus, Hautfarbenbewusstsein, Klassenbewusstsein, Pazifismus) und Negativen Nationalismus (Anglophobie, Antisemitismus, Trotzkismus). Trage jemand nationalistisches Zugehörigkeitsgefühl oder Hass in sich, kämen Angst, Neid oder Machtverherrlichung ins Spiel, seien der Realitätssinn und das Empfinden für Richtig und Falsch gestört: „Es gibt kein Verbrechen, wirklich keines, das sich nicht rechtfertigen ließe, wenn ‚unsere Seite‘ es begangen hat. Selbst wenn man gar nicht abstreitet, dass das Verbrechen stattgefunden hat […], selbst wenn man auf intellektueller Ebene einräumt, dass es nicht zu rechtfertigen ist – selbst dann empfindet man es nicht als falsch. Sobald Loyalität im Spiel ist, geht die Empathie über Bord.“ Diese Einschätzung Orwells könnte heute kaum zeitgenössischer geschrieben werden.
In „Die Verhinderung von Literatur“, „Bücher vs. Zigaretten“ und „Warum ich schreibe“ (alle 1946) setzt sich Orwell mit seiner Tätigkeit als Schriftsteller auseinander und formuliert für sich ein poetologisches Grundgerüst. Insbesondere Totalitarismus, den er umfassender als Despotismus versteht, beschreibt er als Feind von Literatur. Denn in ihm dominiere systematisches Lügen. Prosa könne man hier nicht verfassen, Lyrik sei vielleicht ein möglicher Ausweg. Totalitarismus setzt Orwell gleich mit einem „Zeitalter der Schizophrenie“. „Um unmissverständlich und wahrhaftig zu formulieren, muss man furchtlos denken, und wenn man furchtlos denkt, kann man politisch nicht dogmatisch sein.“ Erst in einer Demokratie könne Prosa ihr höchstes Niveau entfalten.
Orwell beginnt früh – bereits als Kind – zu schreiben. Gründe sieht er in Eitelkeit und Egoismus, ästhetischer Schwärmerei, der Suche nach realistischer historischer Wahrheit und in politischen Ambitionen: „Der Wunsch, die Welt in eine bestimmte Richtung zu lenken, die Vorstellungen anderer Menschen über eine erstrebenswerte Welt zu verändern.“ An anderer Stelle bekräftigt er: „Jede ernsthafte Zeile, die ich seit 1936 schrieb, verfasste ich direkt oder indirekt gegen den Totalitarismus und für den demokratischen Sozialismus, so wie ich ihn verstehe.“
Der wichtige Essay „Schriftsteller und der Leviathan“ (1948) sowie der letzte Text „Überlegungen zu Gandhi (1949) schließen den Band ab. Der Leviathan geht auf das Sünder verschlingende biblische Ungeheuer zurück. Ohne ihn direkt zu benennen, bezieht sich Orwell auf Thomas Hobbes. Offenbar wurde er vom Titel von dessen berühmter staatsphilosophischer Schrift „Leviathan“ (1651) angeregt, in der die von Hobbes postulierte Allmacht des Staates mit der Unbezwingbarkeit des biblischen Ungeheuers verglichen wird. Leviathan steht hier als Metapher für Allmacht, der es zu trotzen gilt. Auch der Literat habe die Pflicht, sich als Bürger politisch zu engagieren.
Bereits in früheren Texten argumentierte Orwell gegen westlichen Pazifismus und betonte beispielhaft die Notwendigkeit bewaffneten Widerstands gegen faschistische Aggressionen. Gandhis religiös begründeten Pazifismus als gewaltfreie Kriegsführung sieht er zwar als erfolgreich im antikolonialen Kampf in Indien, aber nicht als Vorbild für andere Konflikte. „Angewandt auf die Außenpolitik hört Pazifismus auf, pazifistisch zu sein, oder wird zu Appeasement.“
Neben den beiden wirkmächtigen Longsellern sollten die Essays von George Orwell eine größere Beachtung finden.
George Orwell: Die großen Werke. Farm der Tiere, 1984, Die großen Essays. Drei Bände im Schmuckschuber (aus dem Englischen von Heike Holtsch und Jan Strümpel), Anaconda Verlag, München 2023, 800 Seiten, 14,95 Euro.
Schlagwörter: Essays, George Orwell, Jürgen Hauschke, Leviathan, Nationalismus, Totalitarismus