Auf Seite 310 findet sich eine in mehrfacher Hinsicht erhellende Episode. Honecker und Krenz fahren gemeinsam zur Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates nach Strausberg. Sie kommen durch die Frankfurter Allee, Honeckers Blick fällt auf den neu errichteten Gebäudekomplex der Bezirksverwaltung des MfS. Krenz schreibt: „Ein protziger Bau! Viele Berliner hatten sich abfällig darüber geäußert. Der Neubau hatte beträchtliche Summen verschlungen. Angesichts unserer Wirtschaftslage war es mehr als peinlich, dass wir für ein Verwaltungsgebäude so viel Geld ausgegeben hatten. ‚Welcher Idiot hat nur diesen unsinnigen Bau genehmigt?’, fragte mich Honecker. In der Tat: Der Bau war unsinnig. Genehmigt hatte ihn Honecker. Ich überhörte den ‚Idioten’ und reagierte höflich-diplomatisch: ‚Erich, vielleicht ist es besser, dass du überhaupt keine Einzelbauten im Verteidigungsbereich bestätigst und ich dir jährlich nach gründlicher Prüfung durch den Bauminister und die zuständige Abteilung vorschlage, was wir bauen können und was nicht.’ Er reagierte schroff. ‚Das ist Sache des Vorsitzenden des Verteidigungsrates.’“
Honecker wollte nichts von seiner Kompetenz abgeben. Krenz weiter: „So leid es mir auch tat, Honecker hatte nicht mehr die Kraft, die vielen Einzelheiten, die ihm andere Politbüromitglieder antrugen, zu entscheiden. Und selbst wenn er die geistige und physische Vitalität dazu gehabt hätte – kein Mensch war in der Lage, sich in so vielen Details auszukennen, wie es Honecker versuchte. Zum ohnehin schädlichen Subjektivismus kam nun noch ein gewisser Altersstarrsinn, den ich heute mit meinen 86 Jahren besser verstehe als damals als knapp Fünfzigjähriger.“
Der hier wiedergegebene und vom Autobiografen Krenz reflektierte Befund steht pars pro toto für den zweiten Band seiner Erinnerungen, die die Jahre von 1973 bis 1988 umfassen. Es sind jene anderthalb Jahrzehnte, in denen Krenz an der Spitze des Jugendverbandes FDJ stand und dann ins Zentrum der Staats- und Parteiführung wechselte mit der offenkundigen Intention des ersten Mannes im Staate, dass Krenz ihm eines nicht allzu fernen Tages nachfolgen würde. Doch dann verlor der Kronprinz Honeckers Vertrauen. Warum und wieso beschreibt Krenz nachvollziehbar mit vielen Episoden und ohne jede Wehleidigkeit. Etwa so, wie dies auch in der zitierten Begebenheit sichtbar wird.
Im Kern ist dieser Band, der einen erstaunlich hohen Neuigkeitswert besitzt (was sich selten über Politiker-Biografien sagen lässt), weniger ein Buch über Krenz, sondern mehr eins über Honecker. Krenz zeichnet darin ein sehr differenziertes Bild von diesem Mann, wie es kein Zweiter zu Papier hätte bringen können. Er war dichter an Honecker dran als jeder andere, und Krenz verfügt auch über das nötige intellektuelle Format und das politische Hintergrundwissen, um ein realistisches, ein zuverlässiges Urteil abzugeben. Das ist gleichermaßen kundig wie kritisch. Vor dreißig oder zwanzig Jahren hätte Krenz vieles vermutlich nicht so zu Papier bringen können, wie er es jetzt, mit dem nötigen Abstand, zu tun in der Lage war.
Und er ist über jeden Verdacht erhaben, dass er sich Dinge ausgedacht und Begebenheiten erfunden haben könnte, denn Eitelkeit und Wichtigtuerei sind ihm erkennbar fremd. Auch darin unterscheidet er sich von vielen Autoren dieser Provenienz. Das meiste, was er mitteilt, ist mit Zeugnissen belegt. Zwar sind es bisweilen seine eigenen Dokumente, deren Objektivität von einigen Historikern eben allein deshalb bestritten wird, weil ihr Urheber Krenz heißt. Die Aufarbeiter folgen lieber den gängigen Vorurteilen als den Urteilen eines seriösen Zeitzeugen namens Krenz. Selber Schuld, könnte man höhnen, besser: sich ärgern, weil damit Unsinn und Unwahrheiten manifestiert werden.
Aber: Dokument ist Dokument. Es ist darum nachvollziehbar, wenn Krenz am Beispiel einer Politbürositzung gegen gedruckte Ignoranz polemisiert. Bei jener Sitzung im Juli 1987 war über das SED-SPD-Papier diskutiert worden. Die Debatte könne nicht objektiv rekonstruiert werden, weil es nur die Quelle Krenz gebe, lautet das absichtsvoll verbreitete Narrativ. Krenz dazu: „Ich leitete in Vertretung Erich Honeckers diese Sitzung und habe als Einziger den Verlauf der Sitzung ausführlich dokumentiert – um Erich Honecker im Detail über die Diskussion informieren zu können. Es bestand keine Notwendigkeit, diesen Bericht in irgendeiner Weise zu frisieren, zu schönen oder einzelne Wortmeldungen zu entstellen. Sowohl meine Kladde wie auch meine Mitteilung an Honecker befinden sich im Bundesarchiv.“
Breiten Raum in den Erinnerungen nimmt die Darstellung des zwiespältigen Verhältnisses zwischen der DDR und der Sowjetunion ein. Das hatte Krenz bereits 2019 in seinem Buch „Wir und die Russen. Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst ’89“ (edition ost) beleuchtet. Nunmehr breitet er, nicht zuletzt bei der Behandlung des persönlichen Umgangs von Honecker und Gorbatschow, weitere unbekannte Details aus. Sie lassen manches in einem ganz anderen Licht erscheinen. „Wir“, schreibt er – und lässt offen, wer damit gemeint ist –, haben lernen müssen, „dass die Beziehungen DDR-BRD letztlich nur ein Anwendungsfall der Beziehungen UdSSR-USA war“. Will heißen: Die DDR war nicht Subjekt, sondern Objekt der Moskauer Deutschlandpolitik. „Nur aus dieser Perspektive lassen sich manche Interessenunterschiede zwischen der UdSSR und der DDR erklären.“
Auch zu diesem diffizilen Thema steuert Krenz bezeichnende Beobachtungen und Schlüsse bei. Im Juni 1984 fand eine Sitzung des Politisch Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages statt. Tschernenko wurde von Gorbatschow gestützt hereingeführt, weil der erste Mann der Sowjetunion, der Führungsmacht des Ostblocks, augenscheinlich kaum noch laufen konnte. Der schwer-, wenn nicht gar totkranke Generalsekretär „kramte in seinen Akten, fand nicht einmal seinen Redetext für die Eröffnung des Gipfels. Gorbatschow half ihm. Mir schwante nichts Gutes. Wie sollten wir erfolgreich unsere Zukunftsstrategie erarbeiten, wenn die sowjetischen Spitzenpolitiker nicht einmal die physische Kraft für den ordentlichen Ablauf unserer Tagung haben? Honecker schaut mich an. Auch ihm schien dies alles unangenehm zu sein. Offensichtlich bemerkte er meinen Zwiespalt. Als wir uns gesetzt hatten, beugte er sich zu mir und flüsterte: ‚Peinlich, nicht wahr?’ ‚Ja’, antwortete ich. ‚Du musst unbedingt aufpassen, dass mir Ähnliches niemals passiert.’“
Krenz passte auf. Allerdings ohne Konsequenzen. „Zwei, drei Jahre später änderte sich dies. Da hatte auch Honecker seine guten Vorsätze vergessen. Er selbst und mit ihm ein großer Teil unseres Politbüros war alt geworden. Und er merkte es nicht, wie einst wohl Tschernenko.“ Realitätsverlust scheint eine systemunabhängige Berufskrankheit bei Politikern zu sein.
Egon Krenz hat mit seinem zweiten Memoiren-Band ein beachtliches Werk vorgelegt. Es ist ein zeitgeschichtliches Dokument ersten Ranges, wie es keinem deutschen Politiker in den letzten Jahrzehnten gelungen ist. Es gewährt seltene Einblicke in das Machtzentrum einer Staatspartei in einer bestimmten Phase des Kalten Krieges. Die Glaubwürdigkeit, was die Stärke dieser Erinnerungen ausmacht, gründet auf zwei Eigenschaften des Autors: Er ist schonungslos offen und selbstkritisch ehrlich.
Natürlich kann man Krenz vorhalten, dass er meist auf der Kommandobrücke gestanden und nicht alles gesehen habe, was unter Deck passierte. Oder dass er weder den Dampfer noch dessen Kurs grundsätzlich in Frage stellte. Und dass er zweitweise nicht nur ein blaues Hemd trug, sondern immer ein wenig blauäugig gewesen sei. Geschenkt. Das Recht auf Irrtum steht jedem zu. Wie eben auch jenes, sich zu korrigieren.
Natürlich ist jede Sicht subjektiv, geprägt von Erfahrungen, Umständen und Einflüssen. Autobiografien sind Geschichtsbücher, aber weder die einen noch die anderen bieten die absolute Wahrheit am Stück. Der Ostdeutsche Egon Krenz, ein Marxist, versucht mit seinem neuen Buch eine Annäherung. Sie gelang ihm überzeugend.
Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Band 2 der Erinnerungen, edition ost, Berlin 2023,
480 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: DDR, Egon Krenz, Erich Honecker, Jutta Grieser