Nach seinen Sondierungen verkündet Polens Staatspräsident Andrzej Duda, dass ihm zwei namentliche Vorschläge für das Amt des Ministerpräsidenten auf dem Tisch lägen: Mateusz Morawiecki und Donald Tusk. Beide, so heißt es aus dem Präsidentenpalast, hätten versichert, eine regierungsfähige Mehrheit zusammenzubekommen, hätten aber Ende Oktober noch keine Koalitionsverträge vorlegen können. Bei Morawiecki ist es Bluff, um wertvolle Zeit herauszuschinden, bevor die Schlüssel übergeben werden. Im Lager von Tusk aber nimmt das künftige Regierungsbündnis immer deutlicher Konturen an: Man erwartet vom Staatsoberhaupt, mit dem Regierungsauftrag spätestens dann betraut zu werden, wenn am 13. November 2023 mit der ersten Sejm-Sitzung die neue Wahlperiode eingeläutet wird.
Das abgewählte Regierungslager argumentiert nun, dass die Gegenseite programmatisch viel zu breit aufgestellt sei, sie werde ohnehin an einer der wartenden Klippen auseinanderbrechen und zerschellen. Ein klarer Hinweis überdies, als wie festgefügt die eigenen Regierungsbündnisse seit Herbst 2015 im Nachhinein verstanden werden. Die schweren Krisen, so jene vom August 2021, als im Sejm eine verlorengegangene Regierungsmehrheit erst wieder mühsam gesichert werden musste, sind vergessen. Tatsächlich traten die Nationalkonservativen zu den Parlamentswahlen 2015, 2019 und in diesem Jahr immer mit einem vorher beschlossenen Bündnis an, das – ein entsprechendes Wahlergebnis vorausgesetzt – spätere Koalitionsverhandlungen überflüssig machte. Die von Jarosław Kaczyński geführte Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) schleppte jeweils zwei weitere Gruppierungen mit, die alleine nicht ins Parlament eingezogen wären, die aber an den Schnittstellen nach ganz rechts und ins gemäßigte konservative Lager den gesamten nationalkonservativen Bogen auszufüllen halfen. Unter Kaczyńskis strenger Führung regierten die Nationalkonservativen von 2015 bis 2023 in einem Maße geschlossen wie wenige Regierungen sonst in Polen nach 1990.
Umgekehrt erwartet Polen nun die Regierungsübernahme durch ein breites politisches Spektrum, wie es in dieser Ausdehnung noch keines gegeben hat. Vergliche man es mit den Zuständen in Deutschland, so wäre es ein Regierungsbogen, der auf der Bundesebene von der CDU bis zu den Linken reichte – unvorstellbar also, dass so etwas auf längere Zeit hielte. Dem kommenden Ministerpräsidenten Tusk – der das Land bereits von 2007 bis 2014 als Regierungschef führte – wird indes zugetraut, das Bündnis der drei Bündnisse gekonnt und sicher durch die Untiefen und alle Zwänge der kommenden vier Jahre zu führen. Seine Erfahrung dürfte zudem ausreichen, auch das Verhältnis zum nationalkonservativen Präsidenten Duda mit Vorteil für die Regierungsseite auszugestalten.
Hinter Tusk steht in erster Linie die Bürgerkoalition (KO), deren Hauptkraft die von ihm geführte und im Kern gemäßigt-liberal ausgerichtete Bürgerplattform (PO) ist. Dazu gibt es innerhalb der KO konservative auf der einen, linksliberale bis grün-alternative Elemente auf der anderen Seite. Diese Enden sind wiederum wichtig als Scharniere zu den anderen beiden Bündnissen, die den künftigen Regierungsbogen komplettieren.
Auf der rechten Flanke ins Christdemokratische hinein das Parteienbündnis Dritter Weg (TD), das selbst eine eigenwillige Mischung aus gemäßigt konservativen Positionen und strikt auf Wirtschaftsentwicklung ausgerichteter Liberalität darstellt. Mit TD hat die künftige Regierungskoalition sogar den einen oder anderen Brückenkopf dort, wo die Nationalkonservativen als fast unschlagbar gelten: unter der gottesfürchtigen Landbevölkerung. Die Agrarier der PSL wären alleine genommen wohl gar nicht mehr ins Parlament gekommen, aber der Schulterschluss mit jenen Konservativen und Liberalen, die in zentralen weltanschaulichen Fragen – vor allem aber in der Frage der Frauenrechte – eine deutliche Distanz zu Tusk pflegen, hat sie nun plötzlich wieder stark gemacht. Da das Kaczyński-Lager nur auf Sieg gespielt hat, also fest von der Fortsetzung der nationalkonservativen Alleinregierung ausgegangen war, stünde Morawiecki bei eventuellen Sondierungen auf völlig verlorenen Posten, wollte er ausgerechnet unter den Abgeordneten von TD die ihm fehlenden Stimmen für eine Regierungsmehrheit zusammenbekommen.
Auf der linken Flanke hält Lewica (Linke) den Kurs, auch wenn das von einer Fraktion zusammengehaltene Bündnis zweier Parteien stärker gerupft wurde als gedacht. Gegenüber 2019 verlor man über die Hälfte der Parlamentssitze, hat jetzt weniger als die Hälfte der Sejm-Sitze im Vergleich zu TD. Und zusammengezählt erreichen die beiden kleineren Gruppierungen im künftigen Regierungsbündnis immerhin etwas mehr als die Hälfte der Parlamentssitze von KO. Ein Schwerpunkt für Lewica waren die Frauenrechte, gut zu sehen übrigens daran, dass knapp die Hälfte der Fraktionsmitglieder Frauen sind, ein Wert, den sonst keine Gruppierung aufweisen kann. Doch angesichts der Gewichtungen in der kommenden Regierungskoalition wird die von links geforderte umfassende Liberalisierung des Abtreibungsrechts zunächst einmal Verhandlungssache sein. Ähnlich wird es mit den Forderungen nach konsequenter Trennung von Kirche und Staat sein, wie es die Verfassung eigentlich gebietet.
Innerhalb der Lewica-Fraktion haben sich die Verhältnisse paradoxerweise zugunsten der sich als linksalternativ verstehenden Razem-Partei geändert, die in einer deutlich kleiner gewordenen Fraktion statt wie bisher mit sechs nun mit sieben Sejm-Sitzen arbeiten kann. Hier hat eine Rolle gespielt, dass die Wähler in Polen ihr jeweiliges Kreuz nicht der bevorzugten Liste als solche geben, sondern einen einzelnen Namen auf der Liste auswählen müssen, dem die Stimme gegeben wird. Von der jeweiligen Liste ziehen dann jene Kandidaten ein, die die meisten Stimmen erlangt haben. Da nun Lewica in den jüngeren Altersgruppen Werte erlangte, die über dem eigenen Durchschnitt lagen, konnte die ein alternatives Image pflegende Razem-Partei gesondert punkten. Auf der Strecke blieben viele prominente Namen, die sich einst bereits bei den Linksdemokraten der SLD ihre Sporen verdient hatten. Immerhin kehren in Polen die Linkskräfte nun nach 18 Jahren zur Regierungsarbeit zurück. Seit Herbst 2005 drückte man die Oppositionsbank oder war – wie in den Jahren 2015 bis 2019 – sogar außerparlamentarisch.
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