26. Jahrgang | Nummer 23 | 6. November 2023

In Böhmens Hain und Flur, Mähren nicht zu vergessen … (II)

von Wolfgang Brauer

Das Schloss mit dem ganz großen Verrat ist Náchod. Gebaut als Grenzburg zwischen Böhmen und Schlesien war es zur Zeit des Böhmischen Aufstandes im Besitz von Albrecht Jan Smiřický. Der legte selbst Hand mit an, als am 23. Mai 1618 die kaiserlichen Räte auf dem Fenster des Hradschins geworfen wurden. Der Hinrichtung nach der Niederlage der Protestanten am Weißen Berg entging er, weil er im Herbst 1618 an einer Lungenentzündung starb. Seine Erben wurden dennoch enteignet. Náchod ging 1621 an Adam Erdmann Graf Trčka von Lípa. Der war Anhänger Wallensteins – in Schillers Trilogie gibt er das Vorbild für den Grafen Terzky – und wurde mit diesem 1634 in Eger ermordet. Die Trčkas waren übrigens klammheimliche Anhänger der exilierten Protestanten. Mit der Herrschaft Náchod wurde einer der Anführer des Mordkomplotts belohnt: Octavio Piccolomini, General Wallensteins und zudem Kommandeur der Wallensteinschen Leibgarde seit 1627. Der muss von Angstzuständen verfolgt gewesen sein. Schiller liefert in „Wallensteins Tod“ am Ende des Fünften Aufzuges ein treffendes Psychogramm dieses windigen Schurken: „Ich bin an dieser ungeheuren Tat / Nicht schuldig.“ Als eigentlich niemand mehr Burgen baute, ließ Octavio Schloss Náchod durch noch heute beeindruckende Geschützbastionen abriegeln.

Baulich macht das Schloss einen zutiefst düsteren Eindruck. Einer der letzten Herzöge aus dieser Familie, Giovanni Venceslao (tschechisch Jan Václav) – er starb 1742 –, litt unter der „Gemütskrankheit“, wie man damals sagte. Man sieht das seinem Portrait in der Ahnengalerie an – und wundert sich darüber überhaupt nicht angesichts der düsteren Zimmerfluchten, die er bewohnte. Selbst die anderswo barocke Lebenslust bejubelnden Brüsseler Gobelins erscheinen hier irgendwie brutal. Ein paar hübsche Rokokomöbel mindern den deprimierenden Eindruck des Piccolomini-Baus nur leicht. Dieses Schloss ist ein treffliches Studienobjekt für Psychoanalytiker. Zuletzt gehörte es den Schaumburg-Lippes, auch die mussten 1945 gehen.

Zwei possierliche Orte weist der gewaltgetränkte Machtbau auf. Da ist ein verzaubert erscheinender französischer Garten. Dessen Hüter haben es bislang geschafft, ihn vor dem Buchsbaumzünsler, ein Piccolomini unter den Faltern, zu bewahren. Und ein „Medvědárium“. Medvěd heißt Bär. Wer Glück hat, kann Ludvik und Dáša bewundern. Lebendig, es gibt auch gegenteilige Beispiele, davon später.

Wer nach Náchod will, kann den Stau seines Lebens erleben. Durch das Tal der Metuje quetscht sich die E 67, die wohl bedeutendste Straße Nordosteuropas. Genau wegen deren uralter Trassenführung steht hier das imposante Schloss…

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Auch Opočno – mein Lieblingsschloss überhaupt – hatte dem unglücklichen Grafen Trčka gehört. Das ist Renaissancearchitektur vom Feinsten und Geschichte vom Übelsten. Aber wo ist das nicht so. Jedenfalls geht der Bau auf eine der böhmischen Königsburgen zurück. Die heutige äußere Gestalt gewann das Schloß im 15./16. Jahrhundert. Kaiser Ferdinand II. übertrug die 1634 beschlagnahmte Herrschaft Opočno 1636 an Rudolf von Colloredo, der auch rechtzeitig die Fronten wechselte. Er gehörte zuvor zu den Militärs im Umfeld Wallensteins. Der traute ihm aber nicht über den Weg. Zu Recht, wie sich dann in Eger zeigte. Colloredos Truppen genossen in der generell verwahrlosten kaiserlichen Soldateska einen besonders üblen Ruf als disziplinlose Räuber- und Mordbrennerbande. Wie’s Gescherre so der Herre, könnte man in Abwandlung eines geflügelten Wortes sagen. Als der schwedische General von Königsmarck 1648 das Palais Rudolf Colloredos auf der Prager Kleinseite plünderte, konnte er zwölf Tonnen Gold mitgehen lassen… Einer von Colloredos Abkömmlingen heiratete später eine Gräfin Mansfeld. Seitdem heißt die Linie Colloredo-Mansfeld. Auch die wurde nach 1945 enteignet und begann nach der Samtenen Revolution einen erbitterten Restitutionsstreit. Merkwürdigerweise – oft ist es umgekehrt – bekam sie beträchtlichen Grundbesitz zurück. Das Schloss nicht. Den 25 Jahre andauernden Streit trieb Kristina von Colloredo-Mansfeld bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg. Der gab 2022 der Republik recht. Das Berufungsgericht in Pardubice restituierte allerdings Anfang 2023 mehrere tausend Inventarstücke. Die Rechtslage selbst ist nicht einfach. Die Nazis hatten das Schloss nach ihrem Einmarsch beschlagnahmt. Fürst Rudolf II. protestierte bei den Protektoratsbehörden dagegen und verwies auf seine Gegnerschaft zum einstigen Präsidenten Edvard Beneš. Das nutzte ihm nichts, also wurde er Gegner der Nazis. 1945 nutzte ihm das auch nichts. Die Protektorats-Akte mit seinem Einspruch gegen die Beschlagnahme landete auf dem Schreibtisch Beneš’. Dumm gelaufen, sagt man.

Das Schloss selbst ist wunderschön. Der dreigeschossige Arkadenhof öffnet sich in Richtung Orlické hory, dem Adlergebirge, und präsentiert sich in einem harmonischen Gleichklang, wie man ihn nur selten findet. Man sollte zwei Führungen mitmachen. Wie auf vielen tschechischen Schlössern besteht auch hier die Unsitte, unterschiedliche Routen anzubieten, die jeweils Highlights ausklammern. Geschäftlich ist das pfiffig, aber touristenunfreundlich. Auf Opočno trennt man Bibliothek – immerhin 12.000 Bände – und die in drei Sälen untergebrachte Waffensammlung. Und die Gemäldegalerie erst! Andrea del Sarto und Hieronymus Bosch sind da zu finden, zudem eine schöne Kollektion italienischer Barockmalerei. Zwischen beiden Führungen hat man ein wenig Zeit für den sehr schönen und tipptopp gepflegten Landschaftspark.

Es ist merkwürdig. Trotz seiner üblen Geschichte macht Opočno das Herz leicht und fröhlich.

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Bei Vielen wird dieses Schloss aus den Schatten der Kindheitserinnerungen auftauchen. Es ist die Königsburg aus dem „Märchen vom Bären Ondrej“ (1959) bis hin zum Schloss der „Prinzessin Fantaghirò“ (1991-1996) und zahlreicher anderer Märchenfilme. Das perfekte Mittelalter. Dabei ist Schloss Bouzov de facto ein „Neubau“ aus den Jahren 1895 bis 1912, entworfen von Georg Josef Hauberrisser, dem Architekten des Neuen Rathauses in München. Vom Vorgängerbau aus dem frühen 14. Jahrhundert blieb kaum etwas erhalten. Manche sagen, dass der Hussitenkönig Georg von Podiebrad hier geboren wurde. Ich halte das für wenig wahrscheinlich. Die Burg Poděbrady kommt da eher in Frage. Jedenfalls ist Bouzov als Militärbauwerk vollkommen untauglich. In seiner Perfektion erinnert es sehr an Hochkönigsburg im Elsass oder an Schloss Malbork, die Marienburg, am Ufer der Nogat. Das ist kein Zufall. Alle drei sind Bau gewordene Schwanengesänge einer untergehenden Zeit. Man sollte darüber nicht die Nase rümpfen. Was sind die in unseren Städten grassierende Postmoderne und die Reko-Sucht anderes? Das Berliner Schloss, der Marktplatz von Hildesheim oder der Frankfurter Römer erlebten ihre Wiederauferstehung aus dem gleichen Geist heraus wie Schloss Bouzov. Der Bauherr, Hochmeister Eugen von Habsburg – er hatte Bouzov als Hauptsitz des Deutschen Ordens vorgesehen –, sorgte dafür, dass man hier auch bei der überaus prächtigen Ausstattung keine Erinnerungsstücke an die preußische Ära des Ordens findet. Bouzov ist ein Konkurrenzbau der Marienburg. Den Ordensstaat und die Marienburg krallten sich 1525 die Hohenzollern, dem Orden verblieben aber die umfangreichen Besitztümer im Reich. Und Hochmeister war – von Napoleon nach Austerlitz so festgelegt! – ab 1805 immer ein Habsburger. Als letzter aus der Dynastie besetzte das Amt bis 1923 Erzherzog Eugen. Der war auch Inhaber des Hoch- und Deutschmeister Infanterieregiments Nr. 4. – das ist die Truppe mit dem herrlichen Marsch von Wilhelm August Jurek. Populär wurde der durch den 1955er-Film mit Romy Schneider und Hans Moser. Der junge Moser diente übrigens bei den Deutschmeistern.

Aber jetzt romantisiere ich. Der Orden wurde 1939 von den Nazis aufgelöst und enteignet. Hitler wollte das Schloss Heinrich Himmler schenken. Dem war das zu christlich-romantisch verkitscht. Er war nur einen Tag hier, stationierte aber eine SS-Einheit auf der Burg. Die richtete von Bouzov aus noch am 5. Mai 1945 ein mährisches Lidice an. Unter SS-Unterscharführer Egon Lüdemann stürmte sie das in der Nähe liegende Dorf Javoříčko und erschoss alle 38 Männer, die sie im Dorf vorfand. Danach wurde der Ort niedergebrannt. Es gibt immer noch Leute in Deutschland, die die deutsche Herrschaft in der Tschechoslowakei vergleichsweise kommod finden. Die allermeisten Tschechen sehen das anders.

2004 drehte Dennis Gansel auch auf Bouzov „Napola – Eine Elite für den Führer“. Eine Napola war hier nie, der Ort passt trotzdem.

Ein „Medvědárium“ gibt es nicht. Im Schlafzimmer des Hochmeisters liegen aber zwei Bärenfelle. Die haben etwas mit Erzherzog Franz Ferdinand zu tun, dem Attentatsopfer von Sarajevo. Der Erzherzog hatte die Sitte, in Böhmen und Mähren Bären in Burgzwingern zu halten, eingeführt. 1961 wurden auf seinem Schloss Konopiště zwei Braunbären aus dem Prager Zoo in den Zwinger gesetzt. Die wurden aber immer aggressiver, so dass sie 1964 erschossen werden mussten. Die staatliche Schlösserverwaltung wusste offenbar nicht, wohin mit den Fellen. Ich kommentiere das nicht.

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Aber Schloss Slavkov – in die Geschichte ging es unter seinem deutschen Namen Austerlitz ein – ist wirklich schön. Was in der Wiener Kunst und Architektur der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Rang und Namen hatte, hat sich hier verwirklicht. Bis 1919 gehörte es der Familie des Staatskanzlers Maria Theresias, des Fürsten Wenzel von Kaunitz. 1756 brachte der das habsburgisch-französische Bündnis zustande. Und 1770 hatte er die arme Maria Antonia aus außenpolitischen Gründen mit Ludwig XVI. verkuppelt. 1793 erlebte Kaunitz – inzwischen 82jährig – noch, wie die Jakobiner seinem Bündnis mit Hilfe der Guillotine ein Ende setzten. Im Festsaal des Schlosses – eine Sinfonie aus Stuck und Kristall – mussten Russland und Österreich am 6. Dezember 1805 den Waffenstillstand nach der verlorenen „Drei-Kaiser-Schlacht“ unterzeichnen.

Das Schlachtfeld von Austerlitz liegt ein Stück vom Ort entfernt Richtung Brno. Ein harmlos aussehender Acker. Hier, am nordöstlichen Abhang des Prace, hat am 2. Dezember 1805 der legendäre russische Feldmarschall Kutusov – und nicht nur er! – aber so etwas von gründlich versagt, dass am Abend dieses Tages 20.000 russischen und österreichischen Gefallenen etwa 2.000 französische gefallene Soldaten in den Verlustlisten gegenüberstanden. Die Koalitionstruppen flüchteten panikartig. Viele über die zugefrorenen Fischteiche, deren Eis natürlich einbrach. Die Teiche mussten später trockengelegt werden. Nach einiger Zeit wollte keiner die leichenfressenden Karpfen mehr kaufen … Dafür gibt es auf dem Prace seit 1912 ein martialisches „Friedensdenkmal“, das gleichzeitig ein Massengrab ist. Das wird derzeit touristisch fit gemacht. Man sieht es – und wendet sich erschüttert ab. Auch Geld kann stinken. Aber wir wollen nicht ungerecht sein. Solche Monumente des Schlachtfeld-Tourismus’ gibt es in vielen Ländern Europas. Auch bei uns. Und immer wieder werden zwei Begriffe missbraucht: Frieden und Gedenken. Clio, die Muse der Geschichtsschreibung, ist seit altersher die Maitresse der Politik. Die „Gedenkkultur“ ist ihre billige Straßenhure.

Ach so, weil ich mit Kutusow rumstänkere. In der realsozialistischen Legendenbildung – da ist Lew Tolstoi nicht unschuldig – hatte Zar Alexander I. Austerlitz versemmelt. Kutusow allerdings schlief in der Nacht vor der Schlacht bei der Festlegung des alliierten Kriegsplanes ein. Und die subalterneren Offiziersränge verstanden die fremdsprachig – russisch respektive deutsch – erteilten Befehle nicht…

Wem all das zu martialisch ist, der sollte nach Vizovice fahren. Unmittelbar im Zentrum des Städtchens befindet sich ein kleines, von außen unscheinbar erscheinendes Schlösschen. Erbauen lassen hat es sich von Franz Anton Grimm zwischen 1750 und 1770 der spätere (seit 1763) Königgrätzer Bischof Graf von Blümegen. Im Inneren Barock und Rokoko pur, der Kuppelsaal von atemberaubender Schönheit. Proportionen, die Stuckaturen, die Fresken – tolle Illusionsmalerei –, dazu der Blick in den kleinen, aber feinen Park …

Wer mit dieser Welt voller Widersprüche nicht klar kommt, kann sich am Ortsausgang von Vizovice trösten – die letzte Abbiegung innerorts auf der „49“ scharf rechts. Dann kommt der Parkplatz der Firma Rudolf Jelinek. Die brennen einen netten Slivovitz und haben einen Fabrikverkauf. Die Schnapsbrennerei kann man nach Anmeldung besichtigen.

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„Das Geldt ist nur, schene Monumente zu hinterlassen zue ebigen und unsterblichen Gedechtnus“, meinte im Unterschied zu seinem kriegerischen und raffgierigen Vater Fürst Karl Eusebius von Liechtenstein (1611-1684). Er hat das mit dem Ausbau von Schloss Lednice südlich von Brno geschafft. Gemeinsam mit Valtice und dem beide verbindenden englischen Landschaftspark – die Schlösser liegen keine acht Kilometer auseinander – gehört Lednice seit 1996 mit größter Berechtigung zum Weltkulturerbe. In seiner heutigen Gestalt prägten mehrere Generationen das Schloss. Die letzten großen Umbauten geschahen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Fürst Alois II. von Liechtenstein – er herrschte 1837-1858 in der Region – verantwortet die heutige romantisch-neugotische Anlage. Ich übertreibe nicht, das ist ein perfektes Gesamtkunstwerk. Hier stimmt von außen und von innen alles! Da waren einige der besten Künstler der Zeit zugange und geradezu perfekte Handwerker! Überraschend auch das Palmenhaus, quasi der größte Wintergarten Europas, das von den Wohnräumen des Schlosses erreichbar ist. An dessen Pflegezustand können sich die Gewächshäuser der meisten botanischen Gärten deutscher Universitäten eine dicke Scheibe abschneiden.

Wer hat das bezahlt? Nun, den Liechtensteins gehörte ein Fünftel Mährens … 1945 wurden auch sie enteignet. Seit 1990 streiten sie sich mit Tschechien um die Anwendbarkeit der Beneš-Dekrete für sie selbst. Vor tschechischen Bezirksgerichten sind bis dato 26 Klagen anhängig. Das ist ein außenpolitischer Konflikt, die Fürstenfamilie regiert in Vaduz. Angeblich seien sie 1938 keine Deutschen mehr gewesen, sondern halt Liechtensteiner. Das führt zu dem merkwürdigen Umstand, dass Tschechien bis heute die Eigenstaatlichkeit des Großfürstentums vor 1945 nicht anerkennt. Diplomatische Beziehungen nahm man erst 2009 wieder auf. Wie gesagt, es geht in der Endkonsequenz um ein Fünftel Mährens… Lednice ist das Sahnehäubchen.

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Schloss Jaroměřice nad Rokytnou – wer nicht weiß, was ihn erwartet, dürfte sprachlos davorstehen. Zumal wenn man sich von der Gartenseite her nähert. Es ist wohl der prächtigste und am stilreinsten bewahrte Schlossbau des mährischen Barock. Es gehörte einer klassischen Aufsteigerfamilie, den Questenbergs. Eine reiche Kaufmannsfamilie aus Köln, deren Sprößlinge sich im Spätmittelalter entschlossen, in die habsburgische Politik einzusteigen. Die Herrschaft Jaroměřice erhielt zwei Jahre nach der Schlacht am Weißen Berg 1623 ein Gerhard von Questenberg – es ist also Enteignungsgut. Questenberg war kaiserlicher Rat und Freund Wallensteins. Schiller tut ihm übrigens Unrecht. Den Prachtbau errichten lassen hat allerdings Johann Adam von Questenberg 1700-1738. Für die tschechische Musikgeschichte ist der Ort wichtig. Hier wurde 1730 die erste tschechische Oper „L’Origine de Jaromeriz“ uraufgeführt. Komponist war der Kapellmeister der Hofkapelle des Grafen, František Václav Míča. Im beeindruckenden Tanzsaal des Hauses kann man übrigens lernen, dass die Musik das eine, die Musiker aber etwas ganz anderes für die Herrschaften waren. Die Musikerempore ist so gebaut, dass niemand von dort sehen kann, was sich auf der Tanzfläche abspielt. Sehr schön auch der Ahnensaal und das kleine Chinesische Kabinett. Graf Adam hatte allerdings Probleme mit seinen Handwerkern, die irgendwie heutig erscheinen. Das Kabinett wurde und wurde nicht fertig. Der Tischler war ein Spieler und dem Trunke zugeneigt… Immerhin konnte der Graf seinen Unmut abkühlen: In den Badebecken neben einer irren Sala terrena. Von wegen Barock verabscheute Wasser!

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Telč ist ein Phänomen – und ich weiß nicht, was mich mehr beeindruckt hat, die Stadt oder das Schloss. Gegründet wurde die merkwürdige Stadt – lange bestand sie nur aus einem dreieckigen Marktplatz mit ihn umgebenden Laubenganghäusern – nach 1354 von den Herren von Neuhaus. 1531 starb Adam I. von Neuhaus in Prag an der Pest. Es gab zwei Erben: Zacharias und den älteren Bruder Joachim. Die teilten nach Erreichen der Volljährigkeit des Jüngeren das Erbe. Zacharias bekam das mährische Telč, Joachim behielt den ungleich prächtigeren Stammsitz Jindřichův Hradec in Südböhmen. Nicht selten versuchten in der europäischen Geschichte zu kurz Gekommene solche Erbteilungen mit der Keule oder dem Giftbecher zu korrigieren. Nicht hier. Zacharias ließ unter dem Eindruck eines Italienerlebnisses kurzerhand die heruntergekommenen gotischen Bruchbuden umbauen – und heraus kam eine der bezauberndsten baulichen Symbiosen von Stadt und Herrschersitz der Renaissance. Zumindest im Tschechischen. 1604 ging die Herrschaft an Wilhelm Slawata über, einem der kaiserlichen Räte, die am 23. Mai 1618 aus den Fenstern des Prager Hradschins flogen. Ab 1693 gehörte das Schloss bis 1945 zwei verschiedenen Liechtenstein-Linien. Beiden gemeinsam war, dass sie wenig Lust auf Umbauten hatten. Karl von Podstatzky-Liechtenstein behängte immerhin einen Korridor des Schlosses mit afrikanischen Jadgtrophäen. Von 1903 bis 1914 schoss er sich auf fünf Expeditionen durch den Kontinent. So blieben uns nicht nur die im Originalzustand befindliche Architektur samt Gärten, sondern auch überaus seltene Renaissance-Interieurs erhalten. Man hält die Luft an und staunt.

Die ungleich größere Anlage von Jindřichův Hradec – es ist die drittgrößte Tschechiens – kann trotz der Renaissance-Umbauten durch Joachim ihren militärischen Grundcharakter nicht verleugnen. Beim Betreten muss man durch einen finsteren Torbau gehen, in dem eine Ausstellung über die tschechoslowakische Armee im Jahre 1938 untergebracht ist. Die traumatische Erfahrung, dass man sich nach dem Münchner Abkommen ohne Gegenwehr den Deutschen ausliefern musste, sitzt tief im tschechischen Unterbewusstsein. Edvard Beneš, der zunächst auf militärischen Widerstand setzte – aber eine Unterstützung durch die Sowjetunion verweigerte –, ging im Oktober 1938 nach London. Seinem Nachfolger Emil Hácha gratulierte er noch zur Wahl. Hácha durfte dann die Suppe bis zur Neige auslöffeln. Am 15. März 1939 stimmte er der Besetzung der „Rest-Tschechei“, wie die Nazis sich ausdrückten, zu. Hitler hatte die Bombardierung Prags angedroht. Emil Hácha musste bis zur Befreiung als Verwaltungschef des „Protektorates“ präsidieren und starb unter ungeklärten Umständen am 17. Juni 1945 im Prager Gefängnis Pankrác.

Das Herauswachsen der böhmischen Renaissance aus der Gotik lässt sich auf Jindřichův Hradec trefflich studieren. Der von der Innenausstattung schönste Teil muss der Spanische Flügel gewesen sein, in den nach 1594 die Jesuiten ein Schlosstheater einbauten. Dieser Teil des Schlosses und Teile der angrenzenden Bauten fielen 1774 einem verheerenden Brand zum Opfer. Im Bauwettstreit triumphierte so Zacharias mit Telč zumindest postum. Allerdings kann Jindřichův Hradec noch mit einer Überraschung aufwarten, einem vierten Hof. Hinter den imponierenden Großen Arkaden findet man den Schlossgarten, den ein zwischen 1591 und 1596 erbauter Pavillon mit einer 15 Meter hohen Kuppel abschließt. Entworfen hat ihn Baldassare Maggi di Arogno. Im Inneren eine wahre Design-Orgie des Manierismus – für die Vergoldungsarbeiten wurden 4,5 Kilo Gold verbraucht! Der Pavillon diente auch als Tanzsaal. Wie in Jaroměřice mussten die Musiker unsichtbar bleiben und wurden in das Untergeschoss verfrachtet. Die Musik erklang durch ein Loch im Fußboden.

Jindřichův Hradec liegt strategisch günstig an der Straße von Wien nach Prag. Die Herren von Neuhaus bedienten lange äußerst geschickt das Machtpendel zwischen Böhmen und Österreich, ehe sie sich im 16. Jahrhundert uneingeschränkt auf die Seite der Habsburger schlugen. Das erklärt die frühe Ansiedelung der Jesuiten. Hier atmet jede Ritze Macht aus. Eigentlich ein bedrückender Ort.

Dazu passt, dass hier wahrscheinlich die Ursprünge der viele europäische Adelshäuser bis heute immer wieder in Angst versetzenden „Weißen Frau“ zu finden sind. Die Arme hieß Bertha von Rosenberg (1429-1476). Sie hatte natürlich nicht ihre Kinder ermordet, sondern litt unter einem tyrannischen Ehemann. Für Franz Grillparzers „Die Ahnfrau“ lieferte sie das Vorbild. Die deutsche „Ahnfrau“, Gräfin Kunigunde von Orlamünde, ist 100 Jahre älter und starb 1382. Ihre – erfundene – Geschichte wurde von süddeutschen Humanisten verbreitet. „Semper aliquid haeret“ (Es bleibt immer etwas hängen), meinte einst Plutarch. Das gilt heute noch.

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Davon könnte Margarethe von Tirol-Görz ein Lied singen. Sie wurde unter dem Beinamen „Maultasch“ bekannt. Ihren Zeitgenossen galt sie als schöne Frau. Heute ist sie die Inkarnation der Hässlichkeit. Ihr Porträt – ein seitenverkehrter Stich nach dem Original von Quentin Massys in der National Gallery London – hängt heute im Arbeitszimmer Johann von Schönburg-Hartensteins auf Schloss Červená Lhota. Über die Gründe, weshalb Fürst Johann – er stand bis 1918 im diplomatischen Dienst Österreich-Ungarns – die Tiroler Gräfin so prominent platzierte, kann man spekulieren. Es ist auch nicht Margarethe von Tirol. Die starb 1369. Massys malte „Eine groteske alte Frau“ zwischen 1525 und 1530. Margarethe aber stand als Herrscherin Tirols zwischen den Begehrlichkeiten der Wittelsbacher, der Luxemburger (Karl IV., der Sonnyboy der tschechischen Geschichte) und der Habsburger. Die rissen sich schließlich die Grafschaft unter den Nagel und wurden zur Regionalmacht. Die zermürbte Margarethe hatte ihnen 1363 Tirol überschrieben. Wahrscheinlich traten die frustrierten Bayern danach die Verleumdungskampagne los: das hässliche Weib, „Maultasch“ in der Bedeutung von Hure, liederliches Weib etc.pp. Lion Feuchtwanger hat ihr mit seinem Roman „Die hässliche Herzogin“ (1923) keinen Gefallen getan. Auf Červená Lhota finden sich allerdings auch einige bezaubernde Kinderporträts. Und etwas versteckt in der Bibliothek die farbige Zeichnung der Großmutter des letzten fürstlichen Besitzers. Die alte Dame liegt genüßlich auf der Ottomane – und raucht Zigarre.

Das Schloss selbst, eigentlich ein Schlösschen, hat keine „große“ Geschichte. Dafür ist es baulich zu bescheiden, es liegt auch etwas abseits in den Wäldern Südböhmens. 1796 kaufte es der schlesische Freiherr Ignaz von Stillfried und gab dem verarmten Komponisten Carl Ditter von Dittersdorf – der starb 1799 – in der Nähe Obdach. Einige Zeit nach dem Tod des Vaters heiratete er dessen 17-jährige Tochter. Im Schloss wird an Dittersdorf erinnert. Die letzten Besitzer waren dann die Schönburg-Hartensteins. 1945 wurden auch sie als Deutsche – zur tschechoslowakischen Republik hatten sie ein durchaus gespanntes Verhältnis – enteignet. Červená Lhota ist allerdings eine Perle. Es ist wohl das romantischste Schloss Europas. Ein Renaissancebau auf den Resten einer gotischen Felsenburg errichtet und eigentlich noch idyllischer gelegen als Schloss Mespelbrunn im Spessart – wenn nur dem Wasserschloss nicht seit vier Jahren das Wasser abgegraben wäre. Der im 16. Jahrhundert angelegte Staudamm muss saniert werden. Das Geld ist da, selbst alle Genehmigungen liegen vor… Es ist wohl wie beim Questenberg in Jaroměřice. Wir kennen das.

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Durch jahrzehntelange Vernachlässigung in einem maroden Zustand war auch Schloss Kynžvart bei Mariánské Lázně im böhmischen Bäderdreieck. Der Hausschwamm hatte dieses Juwel des Wiener Klassizismus (Peter von Nobile, 1821-1833) im Griff. Erst seit 2000 ist das Haus wieder zugänglich. Das hatte sicher mit dem ehemaligen Hausherrn zu tun, Fürst Klemens Wenzel Lothar von Metternich, dem Strippenzieher der „Heiligen Allianz“. Metternich hat sich in Nordböhmen ein Refugium errichten lassen, das europäische Geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in nuce erleben lässt. Da sein Sohn Richard nur äußerst behutsame Umbauten vornahm, ist der Zustand der Zeit zwischen 1836 und 1848 – da trieb die europäischen Revolution den Fürsten ins Londoner Exil – weitestgehend erhalten. Ästhetisch ist das Haus ein Genuss. Erlesenstes Empire, dazu Canova-Plastiken, die die Schwere des Steins einfach vergessen machen. Aber vor allem wird hier die Politik der Zeit nacherlebbar, die angesichts heutiger Wirrnisse und Idiotien nachdenklich macht. Im Großen Festsaal hängen einander gegenüber die überdimensionalen Staatsporträts Kaiser Franz I. und des russischen Zaren Alexander I., zwischen beiden opulent die eingedeckte Tafel. Die hielt Metternich…

Kynžvart suggieriert seinen Besuchern eine Traditionslinie vom österreichischen Staatskanzler zur heutigen Europäischen Union. Dies mag hinsichtlich der Fördermittel für die Sanierung zutreffen. Mit dem Metternichschen Gedanken des Gleichgewichts der Kräfte als Mittel der Kriegsverhinderung haben Ursula von der Leyen und ihr Klüngel nichts gemein. Aprospos Metternich: Da war doch noch was? Also wenn da nicht jemand im Stillen auf so etwas Ähnliches wie die Karlsbader Beschlüsse spekuliert…

Egal, aber Vorsicht beim Rundgang durch den Landschaftspark! Auch der wurde inzwischen zum Golfplatz umfunktioniert. Schuld ist der englische König. Edward VII. hatte 1905 in Marienbad einen der ersten Golfplätze in Böhmen eröffnet. Und His Majesty sind heute in Mariánské Lázně wieder einer der beliebtesten Werbeträger. Von wegen Geschichte wiederholt sich nicht …

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Aber man muss Gerechtigkeit walten lassen. Deutsche Belehrungen verbieten sich sowieso. In Tschechien gibt es heute noch rund 2125 Schlösser und Burgen (Stand 2016). Davon sind nur 113 in staatlicher Hand. 700 gehören den Kommunen, der Rest Einzelpersonen. Wer schon mal das Dach seines Eigenheimes sanieren musste, dem dürfte dämmern, was allein das Decken einer so bescheidenen Hütte wie Červená Lhota kostet. Dennoch sind zumindest die staatlichen Schlösser in einem Top-Zustand. Von dem kann manch deutsche Einrichtung nur träumen. Das hat mit der tiefen Liebe der Tschechen zu ihrem baukulturellen Erbe zu tun und ist schwer zu erklären. Der Dichter Jaroslav Seifert hat das in seinem Erinnerungsbuch „Alle Schönheiten dieser Welt“ versucht: „Ein zahlenmäßig so kleines Volk wie das unsere schart sich in der Stunde der Gefahr eng um das Andenken und die Werke seiner großen Menschen. […] Diese Anhänglichkeit hat einen schlichten Namen. Es ist Liebe. Gefühle umhüllen die ferne und auch die nahe Vergangenheit mit einem Schleier von Legenden und Sagen, die, ohne gegen die Wahrheit zu verstoßen, die Schicksale ein wenig erleichtern und in dunkler Zeit an bessere Tage denken lassen. Erinnern Sie sich nur an damals, als die Hakenkreuzfahne über dem Hradschin gehißt wurde!“

 

Hier schließt sich der Kreis zu dem in Ústi nad Labem Erfahrenen.

Danke, Karel, mein Freund!