26. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2023

Die Linke Opposition gegen Stalin

von Mario Keßler

Seit der Zeit der Perestroika sowie nach dem Auseinanderfall der Sowjetunion entstand in der russischen Öffentlichkeit ein gesteigertes Bedürfnis nach wahrheitsgetreuen Darstellungen der Zeitgeschichte. Ein spätes Ergebnis dieser Forschungen in wieder sehr komplizierten Zeiten ist die ausgezeichnete Darstellung von Alexander Resnik, Historiker an der Jüdischen Universität Sankt Petersburg, über die Entstehung der Linken Opposition gegen Stalin vor genau einhundert Jahren. Das Buch liegt bisher nur auf Russisch vor. Es stützt sich auf umfangreiches Material aus russischen Lokalarchiven und zeigt die Vielgestaltigkeit, aber auch die Unentschlossenheit der Gegner Stalins, unter denen Leo Trotzki der heute noch immer weitaus bekannteste ist.

Trotzki war Mitglied des Politbüros und Volkskommissar für Verteidigung, doch gegen Stalin ins Hintertreffen geraten, als dieser sich mit Grigori Sinowjew und Lew Kamenew, die er gleichwohl später beide ermorden ließ, zur „Troika“ verbündete. Sinowjew und der gemäßigtere Kamenew waren von der Furcht getrieben, Trotzki könnte eine Diktatur über Staat und Partei errichten; sie erkannten Stalins Gefährlichkeit nicht. Trotzki nahm die Verfestigung der bürokratisch-administrativen Parteistruktur genau wahr und brachte sie am 8. Oktober 1923 in einem Brief an das ZK zum Ausdruck. Dem folgte eine Woche später die „Erklärung der 46“, die den zunehmenden Mangel an innerparteilicher Diskussion beklagte. Die Unterzeichner, zu denen Trotzki aber nicht gehörte, galten als seine Sympathisanten, darunter Jewgeni Preobrashenski, Georgi Pjatakow und Wladimir Antonow-Owsejenko. (Alle später ebenfalls Opfer des Stalinischen Terrors.)

Anfang 1924 veröffentlichte Trotzki die aus einer Artikelserie hervorgegangene Broschüre „Der neue Kurs“. Für Trotzkis Widersacher war diese Schrift, zusammen mit der „Erklärung der 46“, die Plattform einer, der sogenannten Linken Opposition. Doch ging es Trotzki keineswegs darum, eine solche Plattform zu organisieren. Er konnte dies schon deshalb nicht, da er bis April 1924 durch Krankheiten an praktisch-politischer Arbeit und vor allem an öffentlicher Präsenz gehindert war. Doch schrieb er unaufhörlich und blieb somit eine wichtige Ressource der Kritiker Stalins.

Die Hauptsprecher der entstehenden Opposition waren damals Timofej Sapronow, der den „Demokratischen Zentralisten“, einer früheren innerparteilichen Oppositionsgruppe angehört hatte, und Preobrashenski, der sich wie Trotzki für eine forcierte Industrialisierung und gegen die noch von Lenin initiierte Neue Ökonomische Politik ausgesprochen hatte. Ihre Vorstellungen waren zunächst nicht einheitlich: Sapronow artikulierte Forderungen der Arbeiter nach Verbesserung ihrer Lage, Preobrashenski und Pjatakow forderten eine bessere Leitung der Wirtschaft. Doch auf dem XIII. Parteitag im Mai 1924 – dem ersten seit Lenis Tod – erlitt die Opposition mit ihren Forderungen eine Niederlage. Trotzki wurde mit der geringsten Anzahl aller Ja-Stimmen wieder ins ZK gewählt. Das Problem der Oppositionellen bestand darin, dass sie sich keineswegs als solche verstanden oder bezeichneten, sondern, wie Trotzki selbst, stets als genuine Sprecher der Partei aufzutreten suchten und die Einheit der Partei beschworen. Genau dies bestritten die Anhänger der Troika.

In der schon Ende 1923 publizierten Artikelsammlung „Fragen des Alltagslebens“ äußerte sich Trotzki kritisch zum niedrigen Stand des Alltagslebens und der Erziehung, zur politischen Kultur und und dem allgemeinen Mangel daran, zur Passivität der einst revolutionären Massen sowie zu judenfeindlichen Vorurteilen. Die Sammlung bildete ein weiteres Ärgernis für die Troika, denn damit störte Trotzki die immer selbstgenügsamere Atmosphäre in den Funktionseliten von Staat und Partei. Eine weitere Aufsatzsammlung Trotzkis, „Literatur und Revolution“, enthielt eine entschiedene Kritik des „Proletkults“ und wies die offizielle Lesart zurück, in der Sowjetunion existiere bereits eine genuin sozialistische Kultur.

Wie sehr die Machtverhältnisse aber damals noch in der Schwebe waren, zeigte die ZK-Resolution „Über den Parteiaufbau“ vom 7. Dezember 1923. Die von Trotzki mitverfasste Resolution forderte dazu auf, bei den anstehenden Wahlen den Parteiapparat von unten her systematisch zu erneuern und auf verantwortliche Posten solche Funktionäre zu stellen, die imstande wären, die innerparteiliche Demokratie durchzusetzen. Damit nahm sie Forderungen der „Erklärung der 46“ auf. Die Resolution sollte einen Kompromiss zwischen den Lagern herstellen, doch ließen sich die Konflikte damit nicht lösen. Zwar erhielt Trotzki Unterstützung von der Basis, doch zeigte sich in den Wahlen zu den lokalen und regionalen Gliederungen der Partei, dass die mit Trotzki verbundenen Kandidaten fast nirgendwo die Mehrheit errangen.

Eine enorme Rolle spielte in den damaligen innerparteilichen Kontroversen, die schlussendlich Machtkämpfe waren, die Verbreitung von Gerüchten; Gerüchte, die der Apparat um Stalin ebenso geschickt aufzunehmen wie zu erzeugen verstand. Es gelang der Troika durch erfolgreiche Agitation, Trotzki und seine Anhänger in zunächst behutsamer, doch bald sich steigernder Tonart als permanente Unruhestifter darzustellen. Der beschwichtigende Appell der Troika nach Einheit der Partei und nach Eindämmung der endlosen Diskussionen stieß auf offene Ohren. So wurde der Begriff des „Trotzkismus“ zum Synonym für parteiwidriges Verhalten, wenn auch noch nicht mit konterrevolutionären Machenschaften in eins gesetzt. Trotzki selbst lehnte den Begriff ab.

In seiner Verteidigungsschrift „Die Lehren des Oktobers“ wies Trotzki die Versuche von Stalin, Sinowjew und Kamenew zurück, er sei Lenins Erbschleicher und ein Möchtegern-Diktator. Trotzki erinnerte in diesem Zusammenhang an die scharfen Auseinandersetzungen zwischen Lenin und ihm selbst im Oktober 1917 einerseits sowie Sinowjew und Kamenew andererseits. Damals hatten sich Kamenew und Sinowjew gegen den geplanten Aufstand ausgesprochen sowie Lenins und Trotzkis Aufstandspläne öffentlich gemacht. Trotzki wurde sogleich vorgeworfen, mit der Erinnerung an die alten Streitigkeiten Zwietracht in die Partei zu tragen, die mit dringenderen Aufgaben als der Wiederaufnahme „alter Kamellen“ befasst sei. In einem Moskauer Parteibezirk allerdings soldarisierte sich die Mehrheit mit Trotzki und bildete eine dementsprechende Gebietsleitung. Doch die Troika-Anhänger fanden sich damit nicht ab, störten lautstark die Sitzungen und legten die Arbeit des Stadtbezirkskomitees schließlich lahm.

Anderswo kam es nicht einmal dazu. Die Opposition erhielt in der Provinz, wo sie zudem von der Presse abgeschnitten war – von wenigen Ausnahmen wie Krasnojarsk abgesehen – kaum Unterstützung. Ihre Gegner behaupteten, die Opposition bestünde aus nichtproletarischen Elementen, aus Intellektuellen, Studenten und Angestellten mit all ihren Klassenmängeln. Im Vorfeld anstehender Konferenzen gelang es den Troika-Anhängern fast durchgehend, auf die Zusammensetzung der Delegierten Einfluss zu nehmen und sich Mehrheiten zu sichern.

In den Jahren 1923 und 1924 wandelte sich somit die politische Kultur der RKP(B). Die seit dem Fraktionsverbot von 1921 ohnehin verminderten Chancen, abweichenden Meinungen in der Partei Gehör zu verschaffen, schwanden in jenen Jahren fast vollends. War es auch nach dem Fraktionsverbot noch möglich gewesen, begrenzte Kritik zu äußern, so wurde nun jede Kritik als Angriff auf die Einheit der Partei gebrandmarkt.

Wie ihre Gegner aber blieben auch die Oppositionellen den unauflösbaren Widersprüchen des bolschewistischen Parteimodells verhaftet. Beide Lager benutzten somit in der politischen Kommunikation dieselben Termini, gerade wenn sie ihnen unterschiedliche Bedeutung beimaßen. Genau deshalb konnten die Stalinisten später jede konstruktiv-kritische Äußerung als doppelzüngiges Täuschungsmanöver brandmarken: Der Feind tarne sich nicht nur mit dem Parteibuch, sondern auch mit dem Vokabular des Kommunisten.

Trotzki rief gegen die Übermacht um Stalin, Sinowjew und auch Kamenew die Tatsachen der Revolutionsgeschichte an und beschwor seine Anhänger zugleich, nichts zu unternehmen, was die Stabilität der Partei gefährde. Er wollte nichts weniger als eine Diktatur errichten, so sehr ihm dies seine Gegner vorwarfen. Doch wurde die Legende von Trotzkis diktatorischen Ambitionen ein zentraler Bestand des von Stalin geprägten sowjetischen Geschichtsbildes und auch nach 1991 eifrig am Leben erhalten.

 

Aleksandr Reznik: Trockij i tovarišči. Levaja oppozicija i političeskaja kul’tura RKP(b), 1923 – 1924 [Trotzki und Genossen. Die Linke Opposition und die politische Kultur der RKP(B)], 2. Auflage, Sankt Petersburg 2018, 392 Seiten.