26. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2023

Fatale Trugschlüsse

von Sarcasticus

Ende August 2023 hatten Peter Brandt, Hajo Funke, Harald Kujat und Horst Teltschik einen detaillierten Vorschlag für eine Verhandlungslösung des Ukraine-Krieges (siehe Blättchen 19/2023) unterbreitet und unter anderem damit begründet, dass sich bereits „seit einiger Zeit“ abzeichne, „dass weder Russland noch die Ukraine diesen Krieg gewinnen können“. Kernelemente des Vorschlages sind Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand und nach paralleler Aufnahme von Friedenverhandlungen. Kompromisse seien von beiden Seiten erforderlich.

Das Kriegsgeschehen in der Ukraine hat seither keine Veranlassung gegeben, die Einschätzung der „Viererbande“ zur Perspektive dieses bewaffneten Konfliktes zu revidieren. Die seit dem Winter 2022/2023 westlicherseits permanent für das Frühjahr erwartete ukrainische Großoffensive ließ bis Sommeranfang auf sich warten und ist, so der österreichische Oberst Markus Reiner, der Frontgeschehen und -verläufe seit dem völkerrechtswidrigen Überfall Moskaus auf das Nachbarland im Februar 2022 beobachtet, aus „objektiver militärischer Sicht […] nach vier Monaten gescheitert“. Für Reisner lässt die dadurch gegebene Lage dem Westen letztlich nur „zwei sinnvolle Optionen“: „Erstens: USA und Europa gehen all in und geben der Ukraine all das, was sie braucht, um auf dem Gefechtsfeld zu gewinnen. Ob das zu einer Eskalation durch Russland [vulgo zum dritten, dann wohl nuklear geführten Weltkrieg – Sarc.] führen würde, weiß niemand. Zweitens: Wenn der Westen nicht bereit oder in der Lage ist, deutlich mehr zu liefern, dann sollte man auf Verhandlungen für einen Waffenstillstand drängen. Ziel könnte eine ähnliche Situation wie zwischen Nord- und Südkorea sein.“

Vor diesem Hintergrund hat Brigadegeneral a.D. Klaus Wittmann, er lehrt jetzt Zeitgeschichte an der Universität Potsdam, das Papier der „Viererbande“ mit einer Fundamentalkritik in Grund und Boden gestampft, deren Überschrift bereits die Quintessenz seines Denkens umreißt – „Die fatalen Folgen eines Verhandlungsfriedens“ (Berliner Zeitung, 06.10.2023). Denn „Russlands oberstes Ziel“ sei „die Unterwerfung der Ukraine und, wenn sie sich dem widersetzt, ihre Zerstörung samt Vernichtung ihrer staatlichen Identität und Kultur“. Wittmann wirft sich rhetorisch in die Brust, die „Viererbande“ fest im Blick: „Wie kann man glauben, zwischen Vernichtungswillen und Überlebenskampf seien Kompromisse denkbar?“

Im Hinblick auf die Kriegsziele in der Ukraine hat der russische Präsident, Wladimir Putin, Anfang Oktober 2023 auf der jährlichen Waldai-Konferenz erneut erklärt: „Die Krise in der Ukraine ist kein Konflikt um ein Territorium, das möchte ich betonen. Russland ist das größte, das territorial riesigste Land der Welt. Wir haben kein Interesse an der Zurückeroberung bestimmter weiterer Territorien.“ Ob man dies für bare Münze nimmt oder nicht, Fakt bleibt, dass Russland in der Ukraine Krieg führt, allerdings keinen Vernichtungskrieg. Wie ein solcher aussieht, und mindestens dies weiß als Militär auch Klaus Wittmann, hat die Nazi-Wehrmacht mit ihrer Strategie der verbrannten Erde bei ihrem Rückzug aus der Sowjetunion ebenso vorgeführt wie seinerzeit die US Air Force, als Nordvietnam zurück in die Steinzeit gebombt werden sollte. Daran zu zweifeln, dass den russischen Streitkräften gegebenenfalls vergleichbare Mittel zur Verfügung ständen, besteht keine Veranlassung.

Wittmann führt noch ein weiteres schlagendes Argument gegen einen Verhandlungsfrieden mit Moskau ins Feld: „Angesichts der mit Russland gemachten Erfahrungen“ eröffne der Vorschlag von Brandt & Co. „keine Aussichten auf Vertragstreue der russischen Führung“. Das ist, mit Verlaub, Zweckpropaganda. Die vom Westen mit Russland sowie zuvor mit der Sowjetunion gemachten historischen Erfahrungen belegen vielmehr die Vertragstreue Moskaus im Hinblick auf eingegangene völkerrechtliche Verpflichtungen, solange die andere Seite die Grundlage entsprechender Verträge nicht durch Verletzung essenzieller Sicherheitsinteressen Moskaus unterminiert oder gar zerstört.

Das galt selbst für das in diesem Kontext oft beigezogene Budapester Memorandum vom 05.12.1994, in dem sich die Teilnehmerstaaten – Russland zusammen mit den USA, Frankreich und Großbritannien – verpflichtet hatten, „die Unabhängigkeit und Souveränität sowie die bestehenden Grenzen der Ukraine zu achten“ sowie dazu, „dass keine ihrer Waffen jemals gegen die Ukraine eingesetzt wird, es sei denn zur Selbstverteidigung oder in anderer Weise in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen“. Dieses Memorandum war zwar „nur“ eine politische Willenserklärung, kein völkerrechtlicher Vertrag. Einen solchen nicht abgeschlossen zu haben, so eine heutige Einschätzung aus dem US-amerikanischen Lawfare Institute, sage „viel über das Ausmaß der Entschlossenheit der Staaten – oder vielmehr über deren Mangel daran – aus, sich in Zukunft an die Vereinbarungen zu halten“. Trotzdem hatte das Memorandum Bestand, selbst über die NATO-Entscheidung von 2008 (Bukarester Gipfel) hinaus, dass die Ukraine Mitglied des Nordatlantikpaktes werden würde. Erst der von den USA und anderen westlichen Akteuren promotete antirussische Staatsstreich in Kiew im Jahre 2014 brachte das Fass im Hinblick auf die Krim und den dortigen Haupthafen der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol sowie die gewaltsam unterdrückten Autonomiebestrebungen der russischstämmigen Bevölkerungsmehrheit in der Ostukraine endgültig zum Überlaufen.

Was schwebt Wittmann denn nun vor?
Das schreibt er in aller Klarheit: Sieg über Russland, und zwar auf dem Schlachtfeld.

Wie sollte der aussehen?

Zu dieser Frage rudert Wittmann zunächst zurück: „‚Sieg‘ über Russland muss man sich in diesem Fall nicht vorstellen wie die Zerstörung und Besetzung Nazideutschlands 1945 […].“ Das ist schon mal tröstlich, denn das russische Atomwaffenarsenal würde noch jeden Ansatz von „Zerstörung und Besetzung“ zur gemeinsamen Höllenfahrt aller Beteiligten und darüber hinaus für weite Teile Europas und Nordamerikas machen.

Wie also dann?

Sieg über Russland, so Wittmann, „würde darin bestehen, dass die Position von Russlands Streitkräften in der Ukraine so unhaltbar wird, dass sie abziehen müssen“. Und da dies mit den bisherigen westlichen Waffenlieferungen nicht zu erreichen war – siehe ukrainische Großoffensive 2023 – müssten von Berlin unbedingt Taurus-Marschflugkörper an Kiew geliefert werden. Mit dieser Forderung wird Bundeskanzler Scholz ja seit Monaten drangsaliert – aus der CDU (Roderich Kiesewetter), aus der FDP (Agnes Strack-Zimmermann) und aus den Reihen der Grünen nicht minder (Anton Hofreiter).

Taurus, so Wittmann, sei „eine Luft-Boden-Abstandswaffe mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern. Circa 600 Systeme befinden sich im Bestand der deutschen Luftwaffe. Die Ukraine fordert seit langem einen Teil davon mit zunehmender Dringlichkeit […].“

Natürlich, wie Experten meinen, wegen der Fähigkeit des Systems, Schläge tief ins Hinterland der russischen Streitkräfte zu führen und etwa die Brücke von Kertsch, die strategische Versorgungsader der Krim von Russland aus, zu zerstören. Ein Blick auf die Landkarte zeigt darüber hinaus, dass es von der ukrainischen Landesgrenze nordöstlich von Kiew aus nur um die 500 Kilometer bis Moskau sind …

Bundeskanzler Scholz hat die Taurus-Lieferung bisher verweigert. Der, so vermutet Wittmann, versteckt sich halt „hinter dem auch zögerlichen US-Präsidenten“, und ihn, Scholz, treibe „Eskalationsfurcht“. Die sich aber bisher, schreibt der Ex-General dem Kanzler ins Stammbuch, „bei keinem Übergang zu einem potenteren Waffensystem als berechtigt erwies“. Soll im Umkehrschluss wohl die Ermunterung sein, sorglos weiter zu eskalieren, da die Russen ja sowieso nichts dagegen unternähmen. Als wären westliche Waffenlieferungen, um das Bild nochmals aufzugreifen, kein Fass, das der nächste Tropfen um Überlaufen bringen könnte. Eine solche Annahme allerdings wäre für einen Militär, der sich auf seine Kompetenz in Kriegsfragen etwas zugutehält, disqualifizierend fahrlässig.

Unterm Strich hat Klaus Wittmann außer seinem Plädoyer für eine Intensivierung der Kiewer Kriegführung – quasi bis zum letzten Ukrainer – in der Erwartung, dass die Russen dann schon irgendwann abziehen, nichts anzubieten. Das ist, nicht nur für eine ganze Seite in der Berliner Zeitung, ziemlich dünne und als sich selbst beweihräuchernde Alternative zum Papier der „Viererbande“ nicht zuletzt auch eine intellektuelle Enttäuschung.