26. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2023

Abgewählt

von Jan Opal, Gniezno

Die Zeit der nationalkonservativen Alleinregierung in Polen ist vorbei. Der Wählerwille hat am 15. Oktober entschieden, am Ende war es weniger knapp als weithin erwartet. Gut zu sehen am Ergebnis für den Senat, dem Oberhaus im polnischen Parlament. 66 der 100 Sitze fallen den mit einem sogenannten Senatspakt geeint auftretenden Kaczyński-Gegnern zu – vor vier Jahren waren es 51 Sitze. Senator oder Senatorin wird, wer in dem jeweiligen Wahlkreis in einem Wahlgang die meisten Stimmen auf sich zieht. Der politische Bogen der vereint auftretenden Opposition spannte sich von gemäßigt konservativ über liberal bis linksalternativ. Wer in der Wahlkabine mit seinem Kreuz gegen das Kaczyński-Lager entschied, nahm dieses breite Spektrum in Kauf.

Für den Sejm, der gesetzgebenden Abgeordnetenkammer, trat der demokratische Oppositionsbogen mit drei unterschiedlichen Gruppierungen an. Frühzeitig war man sich einig, nicht dem Weg der ungarischen Opposition zu folgen, die im April 2022 mit einer breit aufgestellten gemeinsamen Liste – von rechts bis links – Amtsinhaber Viktor Orbán zu schlagen suchte und dann deutlich scheiterte. Entscheidendes Argument für das Auftreten in den drei Listen war, auf diese Weise besser mobilisieren zu können.

Den Wahlkampfstrategen hier wie dort war klar, dass es kaum Wählerwanderung zwischen den beiden, zutiefst verfeindeten großen Lagern geben und dass am Wahltag derjenige die Nase vorne haben wird, dessen Garten am gründlichsten bestellt und umgepflügt, dessen Wählerpotential schlichtweg am besten mobilisiert ist. Nicht die verlockende Einigkeit, vielmehr die Hoffnung, dass die einzelnen Teile einen besseren Zugriff in den jeweiligen Wählerspektren ermöglichen, gab den Ausschlag. In der Mitte eine breit aufgestellte, im Kern liberal geführte Bürgerkoalition (KO) unter Donald Tusk, zur konservativen Seite hin ein Parteienbündnis aus Agrariern und gemäßigten Konservativen, das sich als Dritter Weg (TD) bezeichnet, und nach links die Lewica (Linke), deren Spektrum von linksdemokratisch bis linksalternativ reicht.

Die beiden machtvollen, von Tusk angeführten Demonstrationen in Warschau am 4. Juni und 1. Oktober, die jeweils weit über 500.000 Menschen auf die Beine brachten, unterstrichen den Anspruch der Opposition eindrucksvoll. Der Schock im Regierungslager war entsprechend, doch hoffte man sehr, dass zumindest eine der beiden kleineren Listen im Oppositionsbogen auf der Strecke bleibt, an der Prozenthürde scheitert. So wie 2015, als für linksgerichtete Listen zwar zusammengezählt über 11 Prozent der abgegebenen Stimmen gezählt werden konnten, die aber wegen des Scheiterns an den Eingangshürden keinen einzigen Parlamentssitz einbrachten. Ein strahlender Kaczyński hatte an jenem Wahlabend plötzlich mit nicht einmal 38 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen die absolute Mehrheit an Parlamentssitzen erobert: Die Tür für den geplanten nationalkonservativen Umbau des Landes war weit geöffnet.

Die Gefahr heuer also berechtigt, dass die entfachte Sogwirkung ins liberale Zentrum hinein die beiden kleineren Flügel rechts und links straucheln lässt. Am Wahlabend bekannte ein erleichterter Tusk, ansonsten ein immer auf Sieg setzender Wettkämpfer, sich noch über einen zweiten Platz derart gefreut zu haben. Er meinte den Abstand der KO zur Kaczyński-Partei, es standen 30,7 zu 35,4 Prozent der abgegebenen Stimmen. Entscheidend war jedoch, dass mit TD und Lewica die beiden anderen künftigen Regierungspartner (bei denen Werte von 14,4 und 8,6 Prozent verbucht wurden) die jeweiligen Hürden locker übersprungen hatten. Kaczyński rief zwar trotzig wie der Kindskopf, er habe ein weiteres Mal gewonnen, doch die Würfel waren gefallen.

Von der ungeheuren Mobilisierung zeugt die Wahlbeteiligung mit einem Wert von über 74 Prozent, unter strengen Bedingungen, die zum Beispiel keine Briefwahl zuließen. Kaczyńskis Wahlkampstrategen, die 2015, 2019 und 2020 die Nase immer richtig im Wind hatten, räumen jetzt zähneknirschend ein, von der hohen Mobilisierung auf Gegners Seite überrascht worden zu sein. Es kann auch anders gewendet werden: Man selbst spielte zu sehr auf Ergebnis, versuchte auf der Zielgraden Zeit zu schinden, sah sich in der viel stärkeren Ausgangsposition und genügend gewappnet, um auf gegnerische Überraschungszüge zu antworten. Was am Ende fehlte, war der Zufluss frischer, neuer Kräfte. Wählerwanderung gab es keine, doch die Nationalkonservativen müssen sich nun eingestehen, ausgerechnet in der wichtigen Wählergruppe zwischen 18 und 29 Altersjahren am schwächsten von allen Parlamentsparteien abgeschnitten zu haben – lediglich 14 Prozent stehen da noch zu Buche. Polens Jugend macht einen weiten Bogen um die Kaczyński-Partei – die Absicht, sie mit dem 2016 eingeführten staatlichem Kindergeld politisch zu ködern, ist gescheitert.

Im 460-köpfigen Sejm hat die künftige Regierungskoalition nun eine komfortable Mehrheit von 248 Sitzen, für die Nationalkonservativen stehen 194 Sitze dagegen. Wann eine neue Regierung gebildet werden kann, steht noch in den Sternen. Zunächst ist Staatspräsident Andrzej Duda am Zuge, er muss innerhalb von 30 Tagen nach der Wahl den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen. Beobachter meinen, er stünde vor der Wahl, entweder auf Parteichef Kaczyński zu hören oder aber der Entscheidung des Souveräns zu folgen. Bekämen die Nationalkonservativen – freilich ohne jede Aussicht auf Erfolg – den Auftrag als erste, ginge entsprechend Zeit verloren. Der Eindruck würde sich verstärken, obendrein ein schlechter Verlierer zu sein.