26. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2023

Der „kranke Mann“ Europas?

von Jürgen Leibiger

Wieder einmal wird die Sau durchs Dorf getrieben: „Deutschland ist der kranke Mann Europas“. Was The Economist im August noch als Frage formulierte und im Fazit dann relativierte, wurde von Carsten Linnemann, dem Generalsekretär der CDU, mit einem Ausrufungszeichen versehen. Und er setzte noch eins drauf: „Wir sind der kranke Mann der ganzen Welt“. Er hatte leichtes Spiel: Der Internationale Währungsfonds prognostiziert dem Land als einzigem unter den großen Wirtschaftsnationen für dieses Jahr einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts. Sofort wiesen die unternehmensnahen Meinungsmacher auf die üblichen Verdächtigen: Steuern zu hoch, Staatsschulden zu hoch, Löhne zu hoch, Bürokratieaufwand zu hoch, Fachkräftemangel, miese Standortbedingungen, ausufernder Sozialstaat, rückläufige Industrieproduktion.

Die Ampelregierung weist solche Vorwürfe zwar zurück, aber ihre jüngsten Beschlüsse – Wachstumschancengesetz, Zukunftsfinanzierungsgesetz und Bundeshaushaltsentwurf – erscheinen wie eine Reaktion auf diese Diskussion. Sie benutzt sogar das Wort von den „multiplen Krisen“ und Christian Lindner verkündete eine „finanzpolitische Zeitenwende“: Kreditfinanzierung abbauen, Schulden reduzieren, keine Steuererhöhungen, Sozialausgaben deckeln, Unternehmenssteuern senken, Rüstungsausgaben erhöhen, Bürokratie abbauen, Angebotspolitik als beste Sozialpolitik.

Wird diese Politik helfen, die allerorten beschworene „De-Industrialisierung“ aufzuhalten und aus den prognostizierten minus 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wieder ein Plus zu machen? Sind die genannten „üblichen Verdächtigen“ ursächlich für die schwache Performance der deutschen Wirtschaft? Offensichtlich wird dabei übersehen, dass sich seit rund fünfzig Jahren in allen entwickelten Volkswirtschaften der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung zugunsten der Dienstleistungen verringert; in Deutschland von 35 Prozent zu Beginn der 1970er Jahre auf 20 Prozent in der Gegenwart. Der jüngst verstärkte Rückgang geht vor allem von den energieintensiven Branchen (allen voran Chemie/Pharmazie) aus und ist eine Folge des Boykotts der Energielieferungen aus Russland. Der Strukturumbruch bei den Energieimporten war mit einer beträchtlichen Preissteigerung verbunden. Die Bauwirtschaft leidet außerdem an den höheren Zinsen, die von der der Europäischen Zentralbank gerade eben noch einmal angehoben wurden.

Eine weitere wichtige Branche, die Schwächen zeigt, ist die für Deutschland strukturprägende Automobilindustrie. Hier gibt es seit ein, zwei Jahren Schwierigkeiten mit den Zulieferern und seit fünf Jahren sinkt die Pkw-Produktion auch weltweit. Nach den Belastungen der Pandemiejahre spart die Bevölkerung überall und hält sich bei großen Anschaffungen wie Wohnungen und Autos zurück. Außerdem produzieren die teils subventionierten Autohersteller in Asien mit einem Kostenniveau, das im Inland nie und nimmer zu erreichen ist. Nicht nur der VW-Konzern hält es ohnehin für besser, die Autoproduktion in China statt in Deutschland auszubauen. Das Verhältnis der Inlands- zur Auslandsproduktion deutscher Pkw-Hersteller wurde von drei zu eins vor dreißig Jahren auf eins zu drei heute verringert. Das ist nicht nur eine Frage der Kosten. Im Hinblick auf ihre Profite müssten die Konzernverantwortlichen nicht recht bei Verstand sein, ihre Produktion auf dem größten Absatzmarkt der Welt zugunsten der einheimischen Produktion freiwillig zurückzufahren. Zudem haben die deutschen Automanager den Trend in Richtung Elektroantrieb jahrelang verschlafen. Dieselben Leute, die staatliche Industriepolitik immer verteufelten, beschweren sich heute, der Staat mache hier zu wenig. Zudem ist seit langem bekannt, dass exportorientierte Volkswirtschaften besonders heftig auf eine schwächelnde Weltwirtschaft reagieren.

Werden mit den jetzt im Bundestag verhandelten Gesetzen die Ursachen des Konjunktureinbruchs wirksam bekämpft? Wird mit einem Rückgang der staatlichen Nachfrage ein höheres Wachstum generiert? Fehlen tatsächlich die Anreize zur Arbeit, muss also ein höherer Druck auf die Beschäftigten und die Arbeitslosen ausgeübt werden? Ist das Sozialleistungsniveau so hoch, dass der Leistungswille einschläft? All diese Unterstellungen sind mit Fug und Recht zurückzuweisen.

Der geplante Sparkurs verschärft die Krisen, kommentiert der DGB-Bundesvorstand und kann sich dabei auf die Argumente des Berliner DIW-Chefs Marcel Fratzscher berufen. In der grundgesetzlichen Schuldenbremse sind für außergewöhnliche Notsituationen entsprechende Ausnahmeregeln vorgesehen, auf die sich die Regierung angesichts der Energiekrise und des Ukraine-Kriegs durchaus berufen könnte. Um 32 Milliarden Euro soll der Bundeshaushalt im nächsten Jahr schrumpfen; das sind über sechs Prozent. Die prognostizierte Inflation hebelt diese Schrumpfung auf real fast zehn Prozent. Dabei gibt es nicht nur Spielraum bei der Kreditfinanzierung. Viel wichtiger ist der Spielraum bei der höheren Besteuerung von Übergewinnen, Spitzeneinkommen, von Vermögen und Erbschaften. Zwischen 300 und 400 Milliarden Euro werden jährlich in Deutschland vererbt und auch im internationalen Vergleich viel zu gering, teilweise gar nicht besteuert. Genau wie die Vermögenseinkommen beruhen sie nicht auf eigener Arbeitsleistung. Die Ampelregierung betrachtet Sozialeinkommen als Gefahr für das Leistungsprinzip, drückt aber bei leistungslosen Vermögenseinkommen und Erbschaften beide Augen zu. Die Steuersenkungen für die Unternehmen haben schon in der Vergangenheit ihr Ziel oft genug verfehlt. Zwar steigen die Gewinne, aber die Investitionen zogen nicht wie versprochen nach. Stattdessen flossen die Mittel in hohem Maße in den Finanzsektor. Der Finanzminister hört dabei offensichtlich mehr auf den marktradikalen Lars Feld, ehemals Vorsitzender der „Wirtschaftsweisen“, den er zu seinem persönlichen Berater gemacht hat und ignoriert die anders ausgerichteten Vorschläge des aktuellen Sachverständigenrates.

Mehrere und keineswegs nur die Sozialverbände protestierten gegen die Kürzungen in ihrem jeweiligen Bereich. Auch verschiedene Länderchefs kündigten Widerstand im Bundesrat an. Die Kommunalverbände haben umgehend Einspruch gegen viele der im Wachstumschancengesetz vorgesehen Steuersenkungen eingelegt, betreffen sie doch deren Haushalte in einer Zeit wachsender Sozial- und Investitionsbedarfe. Wenn Deutschland ein „kranker Mann“ ist, dann mit einer völlig anderen als der vom Finanzminister kommunizierten Diagnose. Und wie die außergewöhnlichen Klimavorfälle häufen sich auch diese Krankheitszustände.

Die Armut, darunter auch die Kinderarmut, bleibt inakzeptabel hoch, die Mittel für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit reichen hinten und vorne nicht, die Anträge für Wohngeld explodieren und verursachen allerorten Bearbeitungsstaus, die Finanzierung der Sozialarbeit wird beschnitten, der soziale Wohnungsbau stagniert, die Kultur- und Sportförderung wird angesichts der inflationsbedingten realen Verluste nur unzureichend gestützt und an vielen Stellen zurückgefahren. Die Zuschüsse für die Renten- und Pflegeversicherung werden auf Kosten von Sicherheitsreserven reduziert oder entfallen ganz.

Das Bildungswesen krankt nicht nur an Lehrermangel, sondern an vielen weiteren Stellen. Der kommunale Investitionsrückstand ist laut Deutschem Institut für Urbanistik auf fast 160 Milliarden angewachsen. Die Sanierung von Schulen, Straßen, Schienen und Brücken liegt seit Jahren im Argen. Demokratieorientierte Bildungsprojekte werden gekürzt. Trotz gewisser Zahlungen zum Inflationsausgleich haben sich bei der Mehrzahl der Privathaushalte erhebliche Kaufkraftlücken gegenüber 2021 ergeben. Das Konsumklima hat sich zuletzt wieder verschlechtert, die Haushalte müssen sparen. Dass unter diesen Umständen private Wohnungsbauvorhaben massenhaft storniert werden, kann nicht verwundern.

Bei allem Auf und Ab bleibt es bei einer verfestigten sozialen Ungleichheit nicht nur zwischen „Oben“ und „Unten“, sondern auch zwischen den Regionen. Und in manchen grafischen Darstellungen regionaler Disparitäten lässt sich genau erkennen, wo die Grenze zwischen der alten Bundesrepublik und Ostdeutschland verläuft.

Im Koalitionsvertrag der Ampel steht: „Gleichwertige Lebensverhältnisse sind die Basis für Vertrauen in unsere Demokratie und halten unser Land zusammen.“ Richtig! Mit wachsenden Rüstungsausgaben auf Kosten von Sozialpolitik und sozialer Infrastruktur lassen sich gleichwertige Lebensverhältnisse allerdings nicht herstellen; eher wird sich der vielerorts herrschende Frust erhöhen.

Ich will ja nicht den Teufel an die Wand malen, aber eine Sparpolitik à la Heinrich Brüning (Reichskanzler von März 1930 bis Mai 1932) zur vermeintlichen Stabilisierung der Wirtschaft wurde schon einmal zum Sargnagel der bürgerlichen Demokratie. Im ZDF-Politbarometer sprangen die Umfragewerte der AfD seit Jahresbeginn von 14 auf inzwischen 20 Prozent.