26. Jahrgang | Nummer 17 | 14. August 2023

Worte, die es in sich haben

von Joachim Lange

Tut nichts! Der Jude wird verbrannt!“ Dieser Satz des Patriarchen in „Nathan der Weise“ brennt sich ins Gedächtnis. Schon bei der ersten Begegnung mit Gotthold Ephraim Lessings Toleranzstück als Schullektüre. Jetzt, wenn ihn ein kollektiver Patriarch dem jungen Tempelherrn so entgegenschleudert, dass der nicht weiß, wie ihm geschieht. Und dann natürlich die Ringparabel, dieses so raffiniert einfache Juwel mitten im erschreckend aktuell wirkenden Stück, um die herum Lessing eine unwahrscheinlich wirkende Alle-sind-verwandt-Story gebaut hat. Beide Szenen sind angesteuerte Höhepunkte in Ulrich Rasches jüngster Salzburger Festspiel-Inszenierung des aufklärerischen Klassikers fürs Selbstverständnis einer liberalen, toleranten Gesellschaft.

Rasches Maschinentheater – oder seine Theatermaschine – ist ein Phänomen. Äußerlich sofort wiedererkennbar, weil er stets alle realistisch naturalistischen Zutaten beiseite lässt und ganz eigene Überwältigungsräume erfindet. Das hat er auch schon in Salzburg 2018 mit seinen „Persern“ im Landestheater gemacht. Diesmal auf der Pernerinsel in Hallein, der längst nicht mehr heimlichen Festspiel-Hauptbühne fürs Schauspiel.

Mit dem jüngsten Zuwachs seines Maschinenparks setzt er auf sich gegeneinander drehende konzentrische Laufkreise für die Darsteller. Dazu gibt es drei ebenso konzentrische Ringe in der Höhe, die fünf mit LED-Lichtern ausgestattete Säulen durch den Raum schweben lassen und so faszinierende Raumvarianten erzeugen können. Einschließlich transparenter Mauern aus Licht durch die die Darsteller auftauchen und wieder verschwinden können. Wobei sie immer gehen: vorwärts, rückwärts, langsamer, schneller, oft seitlich. Wenn hier mal jemand einfach stehen bleibt, entspricht das einem Ausraster im modernen Brülltheater. Flüstern oder Stille gehören nicht zu Rasches Stilmitteln. Das Dauer-Wummern, das Nico van Wersch komponiert hat und das vier Musiker live mit Keyboard, Percussion, Bass und Synthesizer beisteuern, ist kein zurückgenommenes Hintergrund-Bling-Bling. Es ist ein immer wieder ins Crescendo fallendes Begleiten, das den Worten (jedem einzelnen!) Gewicht verleiht. Einen Schutzschild liefert. Pathos befeuert. Aufmerksamkeit erzwingt. Wer nicht bewusst abschaltet, der gerät in den Malstrom einer Wortmusik, die sich genau darauf verlässt: auf den Text, den sie in den Raum schleudert. Die artifizielle Künstlichkeit dieser speziellen Art von Theater (in der Nachfolge von Einar Schleef) dringt gerade dadurch unmittelbar zum Text und seiner Botschaft vor. Es wird oft chorisch gesprochen, manche Figuren aus der Christenecke des Personals (wie der fanatische Patriarch oder die schlichte Amme von Recha) treten nur kollektiv auf. Das berühmte „Tut nichts. Der Jude wird verbrannt!“ klingt so mehr nach Mob als nach Kirchenfürst. Sie sind in ihrem Dogma des eigenen Glaubens gefangen. Individualität würde Mut zum Denken, zum Eindenken in die Postion des anderen voraussetzen.

Valery Tscheplanova spielt den weißen, weisen alten Mann par excellence. Auf den ersten Blick wirkt das wie eine allfällige Verbeugung vor dem Zeitgeist. Es gibt Stadttheater – wie das in Halle – die alle Rollen in diesem Stück entgegen des natürlichen Geschlechts besetzt haben, was rein gar nichts bringt, weil es wie eine doppelte Verneinung wirkt.

Egal, was sich die Dramaturgie gedacht hat, eine Extra-Attacke aufs Patriarchat ist eine solche Besetzung auch hier nicht. Sie beweist vor allem, dass die Schauspielerei eine Profession ist, die eben nicht eine persönliche Nähe oder gar partielle Identität zur oder mit der Rolle voraussetzt. Eine Frau vom Range der Tscheplanova kann natürlich einen Nathan spielen. Vor allem – weil sie es kann. Außerdem hat sie Lessing im Rücken. Der zwar dafür plädiert, die drei Buch-Religionen als gleichwertig zu betrachten, vor allem aber die Vertreter seiner eigenen besonders kritisch unter die Lupe nimmt. Rasche setzt da noch eins drauf und fügt (in den Übertitel gekennzeichnet) antijüdische Ausfälle des Philosophen Fichte und von Voltaire (!) ein.

Bei all diesem streng formalen Gang der Dinge, Menschen und Worte kommt gleichwohl Individuelles ins Spiel. Bei Saladin etwa, dem Nicola Mastroberardino eine gewisse Eleganz in seiner Verblüffung über die Raffinesse von Nathan zugesteht. Oder bei Almut Zilcher, die aus Saladins Schwester Sittah eine geradezu gewitzte Beraterin macht. Und wenn Memet Ateşçi als Tempelherr mit seiner Leidenschaft für Recha (Julia Windischbauer) ringt, bietet das Ideentheater um ein Haar auch noch eine Liebesgeschichte.

Ulrich Rasche überzeugt bei den Salzburger Festspielen mit Lessings „Nathan der Weise“.