Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit Sitz in Berlin gilt gemeinhin als Denkfabrik von Bundesregierung und Parlament. Ob und wann diese sich von SWP-Papieren, -Ratschlägen und anderen -Outputs, respektive zu welchen Fragen und Problemen tatsächlich leiten lassen, ist offen und ob sie damit im Einzelfall immer gut beraten wären – ebenfalls.
Im Juni dieses Jahres und seinerzeit mit Blick auf den bevorstehenden NATO-Gipfel (Vilnius, Juli 2023) hatten sich Margarete Klein, SWP-Forschungsgruppenleiterin Osteuropa und Eurasien, und Claudia Major, SWP-Forschungsgruppenleiterin Sicherheitspolitik, mit einem Papier zum Thema „Dauerhafte Sicherheit für die Ukraine. Von Ad-hoc-Unterstützung zu langfristigen Sicherheitsgarantien als NATO-Mitglied“ zu Wort gemeldet und verkündet: „Drei Optionen können die Sicherheit der Ukraine maximal, verlässlich und dauerhaft gewährleisten.“ Im Detail führten die Autorinnen aus:
Die erste Option bestehe „in der Demilitarisierung Russlands“ wofür „ein Regimewechsel“ in Moskau „unumgänglich“ sowie eine „gleichzeitige[…] Denuklearisierung des russischen Militärpotenzials“ erforderlich seien. Diese Option sei „zurzeit unrealistisch“.
Die zweite Option läge in einer atomaren Wiederbewaffnung der Ukraine. Dies wäre „ein sehr komplexes und langwieriges Projekt, das ohne westliche Unterstützung und Zustimmung geringe Erfolgsaussichten hätte“. Zugleich jedoch wäre ein solche „Renuklearisierung nicht wünschenswert, denn sie würde die europäische Sicherheitsordnung und das globale Nichtverbreitungsregime schwer belasten und sicherlich russische Reaktionen provozieren“.
Daher bleibe – quasi als Königsweg jenseits des Unrealistischen und des Nichtwünschbaren – die dritte Option: „die Einbindung der Ukraine in bi- oder multilaterale Systeme kollektiver Verteidigung“, und diese ließe sich „am effektivsten durch eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine erzielen“. Aber nicht an Sankt Nimmerlein, wie bereits beim NATO-Gipfel in Bukarest im Jahre 2008 beschlossen, sondern ganz handfest und praktisch – in Vilnius in Angriff zu nehmen.
Zunächst springt ins Auge, dass die Autorinnen offenbar überzeugt sind oder zumindest daran glauben, eine dauerhafte Gewährleistung der Sicherheit der Ukraine könnte auch unter den Bedingungen fortgesetzter Konfrontation mit Moskau möglich sein, dass hingegen die – wie langfristig auch immer – Perspektive eines europäischen Sicherheitssystems unter Einschluss Russlands, wie es nach 1990 nie geschaffen worden ist, augenscheinlich völlig außerhalb des Koordinatensystems der sicherheitspolitischen Vorstellungen der Autorinnen liegt. Damit stehen Klein und Major im Übrigen nicht allein, sondern reihen sich stromlinienförmig in den Föhn des aktuellen westlichen Mainstreams ein.
Eine solche Axiomatik war bereits während des ersten Kalten Krieges jahrzehntelang vorherrschend, was zur Folge hatte, dass die Gefahr eines Atomkrieges zwischen Ost und West mit gegebenenfalls zivilisationsvernichtenden Konsequenzen bestenfalls minimiert, nicht jedoch beseitigt werden konnte. Sicherheit in den Ost-West-Beziehungen war damit nicht nur allzeit prekär, sondern schon der Begriff als solcher letztlich ein permanenter Selbstbetrug: Wo im Kriegsfalle die Vernichtung all dessen droht, was verteidigt werden soll, ist der Begriff Sicherheit zur Beschreibung der Lage letztlich nur eine euphemistische Kaschierung des Gegenteils. Das führte seinerzeit bei jenen in Politik und Wissenschaft, teilweise auch beim Militär, die das erkannten und nicht länger akzeptieren wollten, zur Suche nach sicherheitspolitischen Alternativen – sowohl in West als auch in Ost. Auch eine machtvolle Friedensbewegung entwickelte sich vor diesem Hintergrund. Von all dem ist derzeit leider nichts zu spüren.
Bezüglich Option drei von Klein und Major bleibt festzuhalten: Solange das Risiko einer direkten militärischen Konfrontation zwischen der NATO und Russland bestehen bleibt, die nuklear eskalieren könnte, so lange kann auch eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine allenfalls dauerhafte Unsicherheit gewährleisten. Dabei kann Krieg bekanntermaßen auch ungewollt ausbrechen. Etwa wenn Moskau auf den Abschuss einer russischen Militärmaschine vom Typ Su-24 durch die Türkei am 25. November 2015 im syrisch-türkischen Grenzgebiet drastischer denn mittels politischem Protest reagiert hätte …
Im Hinblick auf das SWP-Papier tritt noch ein weiterer fataler Aspekt hinzu, den die Autorinnen durchaus thematisieren, aber meines Erachtens nicht angemessen gewichten: Da die russische Führung unter Präsident Putin die Verhinderung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu einem der maßgeblichen Gründe und zugleich Ziele ihres völkerrechtswidrigen Angriffskrieges erklärt hat (und weil die westliche Führungsmacht USA und auch NATO-Staaten wie Deutschland nicht direkt in einen Krieg mit Russland verwickelt werden wollen), ist eine NATO-Mitgliedschaft Kiews eigentlich nur unter der Bedingungen vorstellbar, dass Russland im Ukraine-Krieg „eine eindeutige Niederlage erleidet“. Wie es die Autorinnen in ihrem Papier gleich mehrfach formulieren. Dies könnte allerdings, wie sie ebenfalls bemerken, „das Putin’sche Regime destabilisieren“ und – weil die „russische Führung […] in ihrem Bedrohungsverständnis nationale Sicherheit unter Regimesicherheit [subsumiert]“ – dazu „verleiten, den Krieg in der Ukraine weiter zu eskalieren“. Dabei sei auch „ein Einsatz taktischer Atomwaffen […] nicht auszuschließen“. Hier hätten die Autorinnen durchaus auf die geltende russische Militärdoktrin verweisen können, die als eines von drei möglichen Szenarien für den Ersteinsatz von Atomwaffen definiert hat: „Reaktion auf eine Aggression mit Einsatz von konventionellen Mitteln, wenn die Existenz des Staates selbst gefährdet würde“. Die Deutungshoheit darüber, ob und wann eine solche Lage eintritt, liegt – ganz unabhängig von den Tatsachen und objektiven Verläufen – im Übrigen ausschließlich beim Kreml.
Das Atomkriegsrisiko also vor Augen, plädieren die Autorinnen trotzdem dafür, den Ukraine-Krieg unbedingt bis zur Niederlage Russlands fortzusetzen und den NATO-Beitritt Kiews jetzt zielgerichtet in Angriff zu nehmen.
Letzteres zumindest ist beim NATO-Gipfel in Vilnius nicht in der auch von Polen, Großbritannien und den baltischen Staaten geforderten Weise geschehen. Von der strategischen Fokussierung auf die Auseinandersetzung mit China einmal ganz abgesehen, ist das Risikobewusstsein in Washington offenbar doch etwas ausgeprägter als bei den SWP-Autorinnen.
Andererseits sind Klein und Major Realistinnen genug, um zugleich zu konstatieren: „Solange der wichtigste Sicherheitsgarant USA einen Beitritt [der Ukraine zur NATO – W.S.] nicht unterstützt, wird er nicht stattfinden.“
Wollen hoffen, dass sich daran so schnell nichts ändert.
Schlagwörter: Atomwaffen, Claudia Major, Krieg, Margarete Klein, NATO, SWP, Ukraine, USA, Wolfgang Schwarz