Der Name Heinz Bormann besaß zu DDR-Zeiten in Magdeburg einen guten Klang, nicht anders die Namen Käthe Thiele in Halle/Saale, Heinz Melkus in Dresden oder Sergej Schilkin in Berlin. Sie stehen hier zusammen mit anderen Firmennamen stellvertretend für eine große Anzahl privater Unternehmen in Ostdeutschland mit einer wechselvollen Geschichte. Inzwischen sind sie größtenteils Legende, einige von ihnen aber existieren immer noch und verkörpern bis heute ein lebendiges Stück Wirtschaftsgeschichte von bemerkenswerter Originalität. Oftmals handelt es sich hierbei um bodenständige Familienunternehmen mit langer Tradition, deren Geschichte etwas über die Menschen in Ostdeutschland und deren Schicksale, über regionale Produkte und Innovationen, über Unternehmensgründungen, Abwicklungen und Neugründungen erzählt. Der Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch hat es unternommen, diese Geschichte für die Zeit von 1945 bis heute nachzuzeichnen. Im Zentrum stehen dabei Unternehmen des produzierenden Gewerbes. Punktuell aber wird auch auf Familienunternehmen im Handwerk und Dienstleistungsbereich eingegangen.
Die Wirtschaftsgeschichte Ostdeutschlands seit 1945 im Allgemeinen und die Geschichte der Familienunternehmen im Besonderen ist durch mannigfache radikale Brüche gekennzeichnet. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es hier zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen mit weltbekannten Marken und Produkten. Sie wurden nach 1945 entweder ganz ausgelöscht oder wanderten in den Westen ab. Die wenigen, die im Osten blieben und sich im Rahmen der Planwirtschaft der DDR behaupten konnten, wurden 1972 verstaatlicht. Der wirtschaftliche Schaden, den erst der Krieg, dann die deutsche Teilung und schließlich die Enteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR angerichtet haben, lässt sich nicht einmal annähernd beziffern. Der Autor konstatiert große strukturelle Defizite und Verwerfungen, die selbst bis heute nicht komplett überwunden sind. Dennoch geben gerade die ostdeutschen Familienunternehmen begründeten Anlass zu Optimismus. Dies ist ein Grund, ihre Erfolgsgeschichte in vorliegender populärwissenschaftlicher Publikation näher in den Blick zu nehmen und eingehend zu würdigen.
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel behandelt die Zeit der sowjetischen Besatzung und dabei insbesondere die Demontagen und Enteignungen zwischen 1945 und 1949. Bis zum Mai 1947 wurden in der SBZ 3.472 Betriebe demontiert. Die Mehrzahl dieser Betriebe hatte keinen militärischen Charakter. Ihre Demontage bedeutete eine nachhaltige wirtschaftliche Schwächung Ostdeutschlands. Von den verbliebenen Industriebetrieben wurden bis 1948 fast 9.300 Unternehmen in staatliches Eigentum überführt. Die restlichen Privatbetriebe hatten 1948 noch einen Anteil an der Produktionsleistung von 39,0 Prozent. Bis 1952 schrumpfte dieser jedoch auf 19,3 Prozent. Dies war nicht nur auf Betriebsumwandlungen und -schließungen, sondern auch auf die massenhafte Verlegung ostdeutscher Betriebe nach Westdeutschland zurückzuführen. Karlsch schreibt, dass derartige Firmensitzverlegungen kein ungewöhnlicher Vorgang sind, in der hier zu beobachtenden Größenordnung aber schon. „Tausende Familienunternehmen reagierten auf die drohende oder vollzogenen Enteignung mit Abwanderung. Auch nach der Gründung der DDR im Oktober 1949 bis zum Mauerbau im August 1961 setzte sich die Flucht von Menschen und Unternehmen fort.“ In der BRD galten diese Firmen als „Zugewandertenbetriebe“. 1953 gab es davon laut Statistik 3.436, de facto aber waren es viel mehr. Allein aus Sachsen wanderten damals rund 20.000 Firmen ab.
Das folgende Kapitel ist dem „Wirtschaftskrieg“ gegen die Privatindustrie bis 1955 gewidmet. Das dritte Kapitel befasst sich mit dem Modell privater Betriebe mit staatlicher Beteiligung. Die Bildung halbstaatlicher Betriebe (seit 1959) in der DDR gilt eigentlich als Erfolgsgeschichte, war aber von vornherein nur als eine Form des Übergangs gedacht. Nach und nach wurden die privaten Betriebe ihrer Selbständigkeit beraubt und zu Nischenproduzenten oder verlängerten Werkbänken der staatlichen Industrie umfunktioniert. Nichtsdestotrotz verstanden es viele familiengeführte Unternehmen, die ihnen verbliebenen Spielräume innovativ zu nutzen und entwickelten sich prächtig – bis 1972, dem Jahr des „finalen Schlags gegen den Mittelstand“. Der Verstaatlichung der halbstaatlichen Betriebe, der großen Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) und der letzten verbliebenen Privatbetriebe ist das nächste Kapitel gewidmet. Allein die akribische Nachzeichnung des Vorgangs von 1972 als politischer Akt ist der Lektüre wert. Die mit der Verstaatlichung verbundenen „Verlusterfahrungen“ waren beachtlich: Quasi über Nacht verschwanden viele Namen und Marken, die bisher für eine regionalspezifische Qualität, aber auch Identität, gestanden hatten.Als weitere Beispiele seien neben den eingangs genannten Namen der Modelleisenbahnbau-Betrieb „Zeuke & Wekwerth in Berlin, der Möbelproduzent „Kehr KG“ in Leipzig und der Radio-Hersteller „Rema KG Karl-Marx-Stadt“ genannt. Demgegenüber erwies sich die volkswirtschaftlichen Bedeutung der „Umwandlungsaktion“ als äußerst begrenzt. Sie bildete nur den Schlussakkord eines bereits „weit fortgeschrittenen Prozesses der Zerstörung des Mittelstandes“.
Das fünfte Kapitel behandelt den „schwierigen Neustart“ seit 1990. Der Autor zeigt, wie ab März 1990 die Korrektur des Fehlers von 1972 erfolgte und die Rückgabe von Unternehmen „zügig“ anlief, diese ab Oktober dann jedoch systematisch behindert und blockiert wurde. Er macht darauf aufmerksam, dass dem neu entstehenden ostdeutschen Mittelstand durch das rasche Vordringen westdeutscher Konzerne große Gefahren drohten. Ein besonderes Thema bildet in diesem Kontext die zwischen einer Unterstützung ostdeutscher Familienunternehmen und den Interessen westdeutscher Konzerne lavierenden Treuhand-Politik: „Nur wenige Reprivatisierungen verliefen reibungslos.“
Das abschließende Kapitel ist den in Ostdeutschland wieder oder neu etablierten Familienunternehmen als dem vermeintlichen „Rückgrat der Wirtschaft“ gewidmet. Im Resümee betont der Autor aber zugleich, dass das Ergebnis nicht unerheblich von den Erwartungen abweicht und den zahlreichen Beispielen erfolgreicher Neustarts auch etliche Beispiele des Scheiterns gegenüberstehen. Es entspricht dem Charakter des Buches, dass die durchaus gemischt ausfallende volkswirtschaftliche Bilanz des „Aufbau Ost“ nicht vertieft behandelt, sondern stattdessen auf die Erfolgsbilanzen des etablieren neuen Mittelstands verwiesen wird. Dies erinnert ein wenig an die Vorgehensweise des „Präsentismus“ (siehe Blättchen 16/2023), indem hier vergangene Prozesse aus der Sicht der Gegenwart beurteilt, also „vergegenwärtigt“ werden. Wird dadurch nicht die Andersartigkeit der Vergangenheit ignoriert? Zumal, wenn die Geschichtsschreibung dazu dient, „Zensuren“ zu verteilen. Ganz sicher war die Mittelstandspolitik der DDR kein Ruhmesblatt ihrer Geschichte. Aber die Restitutions- und Privatisierungspolitik nach 1990 war dies ebenso wenig.Man hätte sich einige Abschnitte in den letzten beiden Kapiteln daher problembezogener und vielleicht auch etwas kritischer gewünscht. Stichwort: Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft als Produktivitätsbremse. Insgesamt aber vermittelt das Buch, insbesondere für die Zeit von 1945 bis 1990, einen interessanten Überblick und einen guten Einblick in die Geschichte ostdeutscher Unternehmen, die man in dieser Detailliertheit in anderen Darstellungen vergeblich sucht.
Das Buch wurde von der Stiftung Familienunternehmen herausgegeben und gefördert.
Rainer Karlsch: Familienunternehmen in Ostdeutschland. Niedergang und Neuanfang von 1945 bis heute, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 360 Seiten, 34,00 Euro.
Schlagwörter: Familienunternehmen, Ostdeutschland, Treuhand, Ulrich Busch, Verstaatlichungen, Wirtschaft