26. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2023

Präsentismus

von Stephan Wohanka

Wir haben nicht das Recht, das heutige Denken

auf damals zu übertragen.

Götz Aly

 

Mein Gewährsmann in Sache Geschichte ist – wie schon verschiedentlich gesagt – Theodor Lessing. Seine einschlägige Schrift nennt er „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“. Lessing leugnet jede historische Gesetzmäßigkeit: „Die wohlbekannte Unvermeidbarkeit der historischen Facta ist nichts anderes als Forderung der Vernunft. […] So liegt aller Geschichte eine logification post festum zugrunde, was auch immer auf Erden geschehen mag“.

Geschichtsschreibung ist Interpretation im Nachhinein. Die grundlegende geschichtstheoretische Erkenntnis besteht darin, dass historische Begriffe subjektive Vorstellungen von objektiven, zurückliegenden Tatsachen repräsentieren; sie sind mit Johann Gustav Droysen nur „Betrachtungsformen […], die der denkende Geist dem empirisch Vorhandenen gibt“.

Vorstellungen „repräsentieren“: Seit geraumer Zeit wird in der Wissenschaftsgeschichte von einem so genannten Präsentismus gesprochen. Historiker, die ihm anhängen, beurteilen den Wert früherer wissenschaftlicher Theorien anhand gegenwärtig etablierter wissenschaftlicher Fakten dazu. Der französische Philosoph Gaston Bachelard formulierte 1951 die These, wonach „die Gegenwart die Vergangenheit beleuchtet“. Es bestehe die Pflicht, die Vergangenheit zu beurteilen: „[…] wir müssen den Wissenschaftshistoriker bitten, Werturteile zu fällen“. Die „präsentistische“ Geschichtsschreibung neigt daher dazu, historische Akteure, Wissenschaftler, in „gute“ und „schlechte“ zu unterteilen – und das vor dem Hintergrund, ob diese das gegenwärtig zum Forschungsgegenstand Vorliegende schon zu ihrer Zeit als „Wahrheit“ ansahen oder nicht.

Das macht den Charakter des Präsentismus deutlich: Hier wird Vergangenheit „vergegenwärtigt“. Er tilgt die Andersartigkeit der Vergangenheit und stülpt ihr Denk- und vor allem Wertenormen der Gegenwart über. Der „Spielraum“, den die eingangs zitierten Lessing und Droysen für „subjektive Vorstellungen objektiver, zurückliegender Tatsachen“ durchaus sehen, wird so ungebührlich überschritten. Zumal, wenn Geschichte dazu dient, „Zensuren“ zu verteilen.

Nun hat der Präsentismus das engere Feld der Wissenschaftsgeschichte verlassen und ist zu breiteren Ufern aufgebrochen. Der US-amerikanische Historiker James H. Sweet wirft seinen Kollegen vor, sie hätten einen allzu „präsentischen“ Blick auf die Vergangenheit. „Sie betrachteten frühere Epochen nur noch ,durch das Prisma zeitgenössischer Fragen der sozialen Gerechtigkeit – Race, Geschlecht, Sexualität, Nationalismus, Kapitalismus’“, so zitiert der Journalist Christian Staas Sweet. Damit hat ein weiteres soziokulturelles Phänomen aus akademischen Zirkeln der USA Deutschland erreicht wie auch schon das Gendern, die critical race theory, wokeness und last but not least die cancel-culture. Was die Autorin Viola Schenz veranlasst festzustellen: Präsentismus heißt der kleine Cousin der cancel-culture. Je nach Bedarf würde so die Vergangenheit nach heutigen Maßstäben bewertet, historische Tatsachen beschönigt, negiert oder verteufelt. Obwohl – ganz so neu ist das Ganze nicht; schon in den 1990er Jahren sprach der Doyen der Historikerzunft in den USA, Arthur M. Schlesinger, von „compensatory history“, einer Wiedergutmachungs-Geschichtsschreibung.

Dazu bietet die deutsche Debatte allerhand „Material“ – ein Paradebeispiel ist die von einem jungen Afrodeutschen geforderte Umbenennung des Berliner U-Bahnhofs Onkel Toms Hütte. Die Station wurde 1929 eröffnet und wurde samt Straße nach dem Wirtshaus Riemeister vulgo „Onkel Toms Hütte“ benannt; 1884 gebaut, 1978 abgebrochen. Der Inhaber namens Thomas soll ein Verehrer des gleichnamigen Buchs gewesen sein. „Ich fühle mich davon beleidigt. Wenn ich hier vorbeifahre, habe ich immer ein unwohles Gefühl“, sagt heute der junge Mann, Sohn einer Kamerunerin und eines Deutschen. Und erfährt durchaus Zustimmung. Diese Menschen wären die „Guten“, da sie sich – ganz im Sinne des Präsentismus – gegen den Rassismus in der Vergangenheit wenden.

Zieht man die tradierte Geschichtsforschung zurate, kommt heraus: Die Autorin von „Onkel Toms Hütte“, Harriet Beecher Stowe, war Teil der Abolitionismus-Bewegung, eine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, die sich Ende des 18. Jahrhunderts gründete. Für Heinz Ickstadt, emeritierter Professor für nordamerikanische Literatur ist es ein „sehr eindrucksvolles Buch“. Es beinhalte „eine erstaunliche Analyse der Sklaverei als ein profitmachendes System, mit Analogien zur Lohnsklaverei des industriellen Nordens der USA“. Kurz nach Erscheinen war es nach der Bibel das meistverkaufte Buch in den USA. Übersetzt in viele Sprachen, wurde es zum Weltbestseller. „Als der Roman veröffentlicht wurde, gab es faktisch keine schwarze Leserschaft, Beecher Stowe richtete sich an das weiße Bewusstsein“, so nochmals Ickstadt. Den schwarzen jungen Mann empört hingegen die unterwürfige Haltung der Hauptfigur: „Am Ende wird er ermordet – doch statt sich zu wehren, verzeiht er sterbend den Sklavenhaltern.“

Die Umbenennung der Station sei längst überfällig, meint die Afrikanistin Marianne Bechhaus-Gerst: „Es hat über Jahrhunderte hinweg niemand auf das gehört, was schwarze Menschen zu sagen haben, wie verletzend bestimmte Bezeichnungen sind“. Bislang habe die weiße Mehrheitsbevölkerung entschieden, was rassistisch sei.

Sind nun die, die am Namen festhalten wollen und sich gegen die Entsorgung eines gewachsenen und plausiblen Geschichtsbildes durch Umbenennung wehren, die „Bösen“? Und: Wie viele schwarze Menschen hätten hierzulande und anderswo „über Jahrhunderte hinweg“ unter den obwaltenden Bedingungen des Kolonialismus gehört werden können? Selbstverständlich ist ihnen hier und heute als Mitgliedern unserer Gesellschaft deutliches Gehör zu verschaffen. Aber: Soll die Meinung der „Mehrheitsbevölkerung“ nun durch die der oft kleinen, manchmal wenig oder einseitig informierten antikolonialistischen Gruppierungen ersetzt werden?

2017 gab es den Vorschlag einer Jury, eine Straße im Afrikanischen Viertel Berlins nach Nzinga Königin von Ndongo und Matamba umzubenennen. Die Namensänderung scheiterte letztlich. Die Königin soll in den 1640er Jahren 12.000-13.000 Sklaven an Holländer geliefert haben. Die Jury wollte das nicht gewusst haben. Bei einem anderen Versuch, eine Straße umzubenennen, gehe man „nach heutigem Demokratieverständnis“ vor und gebe dem „Drängen von Menschen aus dem kolonialen Bereich“ nach.

Die Sklaverei ist keine Erfindung toter weißer Männer. Heute gilt Sklaverei als Verbrechen. Das ändert nichts daran, dass sie lange Zeit in der Menschheitsgeschichte die Norm war, dass Menschen, sobald sie ein „Mehrprodukt“ zu erwirtschaften in der Lage waren, versklavt wurden. Ägyptern, Griechen, Römern, Arabern, Engländern, Holländern, weißen Amerikanern und auch Deutschen im Nachhinein vorzuwerfen, dass sie nach seinerzeit herrschenden ökonomischen Gepflogenheiten, Sitten und Werten handelten, weil diese inzwischen geächtet und verurteilt werden, ist müßig. Sinnvoll wäre es, anzuerkennen, dass Menschen dazu neigen, Mitmenschen zu benachteiligen, zu unterdrücken, zu erobern, auszulöschen. Und das überall. Beweise liefern die Ausflüsse der Weltpolitik jeden Tag.

Es bedarf keines die Vergangenheit schlimmer oder gefälliger darstellenden Präsentismus. Historische Ereignisse sollten „innerhalb der Welten unserer historischen Akteure“ interpretiert werden, um nochmals Sweet zu zitieren. Dann nämlich zeigt sich, dass der verhasste Westen selbst die ideellen Werkzeuge lieferte, um die Verbrechen und das Unrecht zu benennen und zu bekämpfen. Sosehr das Christentum zur Legitimierung von Sklaverei, Gewalt und Unterdrückung weltweit diente, trug es den Keim der Aufhebung dieses Unrechts in sich: 1537 erließ Papst Paul III. die Bulle Sublimis Deus, die die Versklavung der Ureinwohner Amerikas und auch anderer Menschen verbot. Und so rassistisch die europäische Aufklärung teilweise auch daher kam, sie ebnete der Überwindung des Rassismus den Weg. Und „Überwindung“ ist seit jeher der Motor der Entwicklung.

Eine mephistophelische Frage zum Schluß: Wird mit der Projektion heutiger moralischer und politischer Kriterien auf Sklaverei und Kolonialismus nicht die westliche Perspektive weiterhin als Maß der Dinge genommen? Werden nicht wiederum „weiße“ Wertmaßstäbe angelegt? Darin liegt auch das Dilemma der Rückgabe von „Raubkunst“ wie der Benin-Bronzen – wir restituieren diese nach ebendiesen Maßstäben.

PS: Dem oben genannten zweiten Versuch einer Straßenumbenennung – dem der Berliner Mohrenstraße – gab ein Gericht gerade statt.