Ende November 1989 zeigte uns der von Demonstranten gefüllte Wenzelsplatz in Prag, dass bei unseren Nachbarn die alte Ordnung ins Rutschen kam, spät aber immerhin. Neulich, am 16. April, waren wieder Zehntausende auf dem Václavské náměstí. Was ist da los, fragte eine Bekannte einen Kollegen. Und der fragte mich. Ich hatte bei Radio Prag gelesen, dass Demonstranten die ukrainische Flagge vom Nationalmuseum zu holen versucht hatten und dass die Demonstration von der Partei „Svoboda a přímá demokracie“ (Freiheit und direkte Demokratie) organisiert worden wäre. Die Partei, deren Abkürzung „SPD“ ist, wird als rechtsextrem eingeschätzt. Allerdings las ich auch, dass hier für Frieden und gegen Armut demonstriert worden wäre. Widersprüchliche Informationen, ein Grund also, mich genauer zu erkundigen.
Anfang Mai besuchten meine Prager Bekannten Berlin. Politisch sind sie Linke geblieben, in ihrem Land damit eher einer Minderheit angehörend. Ich hatte sie lange nicht gesehen und freute mich, sie zu treffen. Natürlich stellte ich meine Fragen zur Demonstration in Prag und erfuhr, dass sich unter den Tschechen viel Unmut angesammelt hatte. Die Inflation hatte im Februar den traurigen Rekord von 18 Prozent gegenüber dem Vorjahrsmonat erreicht. Die Mitte-Rechts-Regierung hatte gerade beschlossen, die den Rentnern eigentlich nach geltendem Recht zustehende Rentenerhöhung durch ein neues Gesetz zu verhindern. Weitere Etatkürzungen sind geplant. Zudem gab es in Prag Unmut über die vielen ukrainischen Flüchtlinge: Sie würden von der Polizei selbst bei verschuldeten Verkehrsunfällen nicht zur Kasse gebeten und belegten viele Wohnungen, die der Bevölkerung fehlten. Dieser Unmut habe sich in der besagten Demonstration ein Ventil gesucht. Allerdings hätten die tschechischen Medien nicht sachlich berichtet, die Bilder des Fernsehens zeigten einen nur halbgefüllten Platz, weil sie vor Beginn der Demo aufgenommen worden wären. Der Sturm auf das Nationalmuseum sei übertrieben worden. Die „SPD“ habe nur eine marginale Rolle gespielt, allerdings hatten deren Anhänger besonders viele Plakate mitgebracht um Einfluss vorzutäuschen.
Widersprüche sind Demokratien eigen, unterschiedliche Interessen und Weltsichten erzeugen auch unterschiedliche Interpretation von Ereignissen. Trotzdem kann Protest, der Unmut an die Oberfläche bringt, auf Tiefenströmungen hinweisen, heranreifende Umbrüche andeuten. 2006 zeigte sich in Ungarn in den von Fidesz organisierten, teilweise gewaltsamen Protesten gegen die Regierung, dass eine Krise existiert, welche 2010 die Partei zu einer neuen Mehrheit führte. Und Fidesz hat seitdem drei weitere Wahlen gewonnen.
Populismus, vor allem rechter, ist ein Ausdruck einer Entfremdung zwischen der politischen Klasse insgesamt und Teilen der Bevölkerung. In der Debatte wird häufig die Gefahr von Populismus für unsere demokratische Ordnung hervorgehoben. Er ist aber auch ein Hinweis auf einen Problemstau. Jenes Signal kann hilfreich sein für politische Kräfte, die ernsthaft nach Lösungen suchen.
1989 schien es im Osten des Kontinents nur eine Lösung für die Krisen des Systems zu geben: Freiheit und Demokratie, Marktwirtschaft und Nachahmung des Westens. In den Jahrzehnten seitdem sind Hoffnungen zerstoben und haben sich Enttäuschungen angesammelt. Auch Enttäuschungen mit den Lösungen, die liberale und linke Parteien angeboten hatten. Daraus haben rechtspopulistische Parteien Kraft gesogen. Die Wahlbeteiligung ist in vielen Ländern stark gesunken, die Regierungsbildungen sind schwieriger geworden oder führen schnell zur nächsten vorgezogenen Wahl des Parlaments.
Um nur ein paar Beispiele zu erwähnen: In Rumänien nahmen seit 2008 nur zirka zwei Fünftel der Wahlberechtigten an Parlamentswahlen teil, 2020 waren es nur ein Drittel. In Bulgarien ist in zwei Jahren fünfmal gewählt worden; ob es dieses Mal zu einer stabilen Mehrheit reicht, ist noch nicht klar. Stabilität hingegen gibt es in Ungarn und Polen, wo bekanntlich rechtspopulistische Parteien seit 2010 bzw. 2015 regieren. In vielen Ländern sind rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in den Parlamenten vertreten. Um nur einige zu erwähnen: in Bulgarien erreichte die Partei „Văzraždane“ (Wiedergeburt) 14 Prozent der Stimmen, in Rumänien die Partei „Alianța pentru Unirea Românilor“ (Allianz für die Einheit der Rumänen) 9 Prozent, in Ungarn gibt es neben Fidesz noch die rechtsextreme Partei „Jobbik Magyarországért Mozgalom“ (Bewegung für ein besseres Ungarn) mit 19 Prozent bei den letzten Wahlen, in Tschechien die erwähnte „SPD“ mit 10 Prozent, in der Slowakei erreichte eine rechtsextrem-populistische Partei (Kotlebovci-Ľudová Strana Naše Slovensko/Kotlebas Volkspartei unsere Slowakei) 8 Prozent, in Polen ist eine rechte Partei im Aufwind, die für die Vertretung der originär-polnischen Interessen eintritt, die „Konfederacja Wolność i Niepodległość“ (Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit). Jene Parteien beziehen sich auf die meist autoritäre nationale Geschichte vor 1945 und stehen der EU kritisch gegenüber. Sie stehen für eine Art „Unser Land zuerst“ Politik.
Müssen wir Angst um die Demokratie haben? Was droht uns da? Und wem droht was?
Da wäre ja noch die AfD in Ostdeutschland, eine Partei, die in Ostdeutschland an Einfluss gewinnt. Mit Personen an der Spitze, die ihre rechtsnationalen Träume nicht selten aus dem Westen des Landes mitgebracht haben, wie etwa der thüringische Spitzenkandidat Björn Höcke. Das Führungspersonal dieser Partei ist aber nicht das wirklich Interessante an ihr, sondern es ist deren anwachsende Wählerschaft. Was treibt die an, sind die denn unbelehrbar trotz der gewesenen „zwei Diktaturen in Deutschland“?
Oder sind jene rechts-populistischen Parteien in Ostmittel- und Südosteuropa, ist jene erstarkende AfD in Ostdeutschland, nicht eher wichtig als Zeichen für eine Entfremdung der politischen Klasse von Teilen der Wählerschaft? Eigentlich ist es viel interessanter darüber nachzudenken, warum jene politische Unzufriedenheit, die sich in Straßen- und Wahlprotesten zeigt, nicht von den linken Parteien mobilisiert wird. Was hindert sie daran? Es ist doch das Lebenselixier von Demokratie, unbefriedigte Interessen der Wählerschaft zu vertreten und für deren besserer Berücksichtigung zu kämpfen. Repräsentiert werden sollen die Interessen der ganzen Wählerschaft, nicht allein die der oberen Zehntausend. Linke Parteien haben in ihren Programmen doch das Ziel, kapitalistische Missstände zu überwinden, wie die Ungleichverteilung des Vermögens, die Privilegierung der Wenigen. Und die zunehmende Ungleichheit der Gesellschaften, die Umverteilung von unten nach oben, ist nicht zuletzt ein Ergebnis der vorherrschenden Wirtschaftsordnung, des modernen Kapitalismus, der zudem in seiner neoliberalen Phase seine Sozialstaatlichkeit abgebaut hat.
Als ich am letzten Sonntag durch das brandenburgische Brodowin ging, wurde ich auf ein Haus aufmerksam, auf dem ein politisches Plakat gemalt war: Zwei Hände, eine blau-gelbe und eine weiß-blau-rote, ließen eine Friedenstaube aufsteigen, und darüber standen zwei Zeilen: „Frieden mit Russland“ und „Frieden in der Ukraine“. Außerdem hatte der Autor dieses Bildes noch geschrieben: Gegen Medienpropaganda und daneben eine Flamme eines Herdes gezeichnet, über der stand: „Für russisches Erdgas.“
Ich dachte zuerst an die AfD. Dann jedoch stutzte ich über mich selbst: Waren das nicht nachvollziehbare Forderungen? Warum habe ich sie mit der Politik nur einer, dazu noch einer rechtsextremen, Partei identifiziert? Diese Ziele entsprechen den Interessen breiter Schichten der Bevölkerung und auch denen der deutschen Wirtschaft. An einer Schwächung der einheimischen Wirtschaft durch hohe Energiepreise können nur die Konkurrenten von außerhalb Interesse haben. Eine aktive Friedenspolitik dient doch nicht den russischen imperialen Interessen. Schwierig sicher ist deren Realisierung, aber auch ein schwieriges Werk muss zunächst einmal gewollt und begonnen werden. Eine solche Aufgabe wäre ein Auftrag an die politische Klasse, um an der Überwindung der Entfremdung zwischen ihr und Teilen der Bevölkerung zu arbeiten. Und die linken politischen Kräfte in allen Parteien könnten am meisten interessiert sein, es in Angriff zu nehmen.
Es lohnt sich, die Oberfläche des politischen Protestes zu durchstoßen und nach seinem Grund zu suchen. Politik beginnt mit der Interpretation von Realität. Besonders gilt das für eine linke Politik, die sich mit den sie marginalisierenden Verhältnissen, auch denen in den Medien, konfrontiert sieht.
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