Man will es kaum glauben: Ausgerechnet die Publikumszeitschrift DAS MAGAZIN mit den Schwerpunkten Kultur und Lebensart, die in der DDR wegen der Aktfotos eine heißbegehrte Ware war, hat in ihrem Heft 1/2023 eine Diskussion um den Wert forensischer Gutachten neu entfacht.
Der Neurowissenschaftler Itiel Dror vom University College London stellt in einem Interview mit seinen Untersuchungsergebnissen die Unfehlbarkeit von Forensikern grundsätzlich infrage, was weltweit einen Aufschrei hervorrief. Denn viele Experten und Spezialisten sind so von sich überzeugt, dass sie nur die reine Wahrheit verkünden und nichts weiter. Das wirkliche Problem sei aber, dass Staatsanwälte, Richter und die Polizei den Gutachtenergebnissen oft blind vertrauen. Und die Öffentlichkeit glaubt, die Forensiker seien objektiv und unparteiisch. „Tatsache ist“, so Dror, „dass ihnen ungeheuer viele Fehler unterlaufen, dass sie überaus voreingenommen sind – und aus dieser Voreingenommenheit heraus urteilen sie.“
Jede Domäne der Forensik sei von kognitiver Verzerrung, wie es fachwissenschaftlich heißt, betroffen. Experten für Fingerabdrücke lassen sich zum Beispiel von Informationen durch die Polizei beeinflussen: wenn die Polizei ohnehin von der Schuld der Person überzeugt ist oder wenn sie weiß, dass der Verdächtige vorbestraft ist. Man sieht also Übereinstimmungen, wo es gar keine Übereinstimmungen gibt. Nach Dror sind fast alle Fachgebiete betroffen: die Untersuchung von Schusswaffen und Munition, der Vergleich von Handschriften und das weite Feld der Rechtsmedizin.
Und Dror machte aufsehenerregende Experimente. Er legte fünf erfahrenen, anerkannten Experten Fingerabdruckpaare vor. Mal wurde gesagt, der Verdächtige, dem der Fingerabdruck gehörte, habe die Tat gestanden, ein anderes Mal wurde dem Experten mitgeteilt, dass der Verdächtige im Ausland auf der Flucht ist und mehrfach vorbestraft sei, ein anderes Mal sei er völlig unbescholten. Oder Augenzeugenhätten ihn wiedererkannt oder eben auch nicht. Natürlich stand keine dieser Informationen in irgendeinem Zusammenhang mit den vorgelegten Fingerabdrücken.
Und das Ergebnis: Die Entscheidung der Experten, ob der Verursacher eines Fingerabdruckpaares identisch ist oder nicht, war immer abhängig davon, was sie erwarteten. Sie fanden ein- und denselben Verursacher zu jeweils zu hundert Prozent identisch oder zu hundert Prozent nicht identisch. Sie waren sich immer ganz sicher und hielten einen Irrtum für ausgeschlossen.
Nach einem halben Jahr wurden dieselben Fingerabdrücke vorgelegt, jetzt widersprachen vier der fünf Probanden ihrem ersten Ergebnis, und damit sich selbst! Nämlich „der Entscheidung, die sie sechs Monate zuvor aufgrund anderer Informationen und Erwartungen getroffen“ hätten, kommentiert Dror das Ergebnis des Experimentes.
Er verschärfte daraufhin seinen Versuch, indem er echte Fälle verwendete, in denen die Spezialisten eindeutig eine Identität festgestellt hatten. Jetzt legte er acht latente, das heißt sichtbar gemachte Abdrücke sechs Experten vor, angeblich von einem neuen Fall. Und Dror erzählte ihnen jetzt eine andere Geschichte: Der Verdächtige sei zur Tatzeit weit weg gewesen, und ein anderer habe die Tat fälschlicherweise gestanden. Vier von sechs Gutachtern erklärten nach dieser suggestiven Beeinflussung, dass die Abdrücke nicht übereinstimmten.
Itiel Dror ist nach der Veröffentlichung seiner Ergebnisse von den Experten aller Fachrichtungen übel angegriffen worden. Sie verlangten seine Entlassung und forderten, dass die Forschungsergebnisse zurückgezogen werden. Keiner wollte die Wahrheit hören: nicht die Fingerspurenspezialisten, nicht die DNA-Experten und auch nicht die Rechtsmediziner.
Sehr kompliziert wird es bei DNA-Mischspuren von zwei, drei oder vier Menschen, was die Auswertung viel komplizierter macht. Im Fall Kerry Robinson (USA, Georgia) hatte der Hauptangeklagte ausgesagt, dass der Mitangeklagte Robinson an einer Gruppenvergewaltigung beteiligt gewesen war. Die beiden DNA-Experten hatten jede Menge Informationen zum Fall, die für ihre eigentliche gutachterliche Arbeit völlig irrelevant waren. So kamen sie zwangsläufig zum falschen Schluss, dass dessen DNA aus dem am Opfer gesicherten Mix nicht ausgeschlossen werden konnte.
Dror legte 17 anderen Experten die fragliche DNA vor – ohne irgendeine Fallinformation. 16 widersprachen den Experten aus Robinsons Verhandlung, nur einer kam zum gleichen Schluss. Ergebnis: Kerry Robinson wurde 2020 als unschuldig aus dem Gefängnis entlassen, nachdem er schon 18 von 20 Jahren abgesessen hatte. Ein spätes, aber gutes Ende, auch dank der Forschungsergebnisse von Itiel Dror.
In dem Interview erläuterte er, dass das kein Einzelfall ist. Man lese nur das Buch „Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA“ von Bryan Stevenson (deutsch 2015). Das US-amerikanische Strafensystem habe völlig versagt, so Stevenson, Menschen und Gerechtigkeit interessieren nicht. Stevenson hatte als Rechtsanwalt zahlreiche Verfahren gewonnen und Unschuldige vor der Vollstreckung der Todesstrafe gerettet. Er kämpfte um den Schwarzen Walter McMillian, der wegen eines angeblichen Mordes an einer weißen Frau ohne Beweise einige Jahre in der Todeszelle verbrachte. Er war der 50. Unschuldige, der in den USA nach einem Todesurteil dann doch noch freigesprochen worden ist.
Viele sind auch aufgrund falscher Gutachten zum Tode verurteilt und hingerichtet worden – in diesem viel gepriesenen Land der Gerechtigkeit und Freiheit.
Und in Deutschland? Fehlurteile gibt es ebenfalls zuhauf, und oft sind auch Gutachter unrühmlich beteiligt. Einige sind in dieser Zeitschrift ausführlich behandelt worden, beispielsweise die Fälle Gustl Mollath, Hans Hetzel, Carl Käselau, Rudolf Rupp und Erich Schromm. Das Grundproblem ist, dass der Rechtsstaat zum Rechtsmittelstaat zu verkommen droht, in dem letztlich der obsiegt, der sich langwierige Verfahren und teure Anwälte leisten kann.
Das sind wahrlich keine guten Aussichten.
Schlagwörter: Fehlurteile, Fingerabdrücke, forensische Gutachten, Frank-Rainer Schurich, Rechtsmedizin