26. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2023

Der Fall Rudolf Rupp

von Frank-Rainer Schurich

Der Begriff „corpus delicti“ kommt aus dem Lateinischen und beschreibt Körper, Gegenstände und Werkzeuge, die an den Tatorten gesichert werden und später dem Gericht als Beweisstücke dienen. Aber was passiert, wenn es bei einer Mordanklage gar keine Leiche gibt? Das scheint oft nur ein Kollateralschaden zu sein, der die Richter und Staatsanwälte immer wieder neu zu kreativen und natürlich ganz rechtsstaatlichen Interpretationen herausfordert.

Der Schweizer Kriminologe und Autor Frank Arnau (geboren 1894 im Orientexpress, gestorben 1976 in München) war der vermutlich bestgehasste, weil meist gefürchtete Kritiker der westdeutschen Justiz. In seinem Buch „Die Straf-Unrechtspflege in der Bundesrepublik“ (Verlag Kurt Desch 1967) bewies er, dass in der alten BRD unschuldige Menschen Jahre und Jahrzehnte im Zuchthaus sitzen, weil die deutsche Strafgerichtsbarkeit alles aufbietet, um Wiederaufnahmeverfahren zu unterbinden. In allen diesen Fällen ziehen es die Gerichte und die unmittelbar betroffenen Staatsanwaltschaften vor, schuldlose Menschen weiter hinter Zuchthausmauern festzuhalten, als durch eine Berichtigung der Fehlsprüche den Nimbus ihrer Unfehlbarkeit zu gefährden.

Ein besonders krasser Kriminalfall und Justizskandal ist die angebliche Ermordung des Landwirtes Rudolf Rupp aus Heinrichsheim (Stadt Neuburg an der Donau in Bayern), der am 13. Oktober 2001 nach einem Gaststättenbesuch inklusive Konsum von acht großen Bieren spurlos verschwand. Das Auto, ein Mercedes 230 E, mit dem er anschließend wegfuhr, war ebenfalls nicht mehr auffindbar.

Seine Ehefrau Hermine und der Ex-Freund einer Tochter, Matthias E., wurden am 13. Mai 2005 vom Schwurgericht am Landgericht Ingolstadt wegen Totschlags zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt, obwohl die Leiche des Bauern trotz intensiver Suche nicht gefunden werden konnte. Sie sollen das Opfer bestialisch erschlagen, zerstückelt und die Leichenteile an die auf dem Hof lebenden Hunde (Dobermänner, ein Bullterrier und ein Schäferhund) verfüttert haben. Sie hatten die Tat gestanden und detailliert beschrieben, wie die Zerstückelung erfolgte. Das Blut schöpfte Matthias E. mit einem Margarinebecher in einen Eimer ab, nachdem er Arme und Beine abtrennte, den Leib aufschnitt und die Organe entnommen hatte. Auch die beiden Töchter, zum Zeitpunkt des Verschwindens von Rudolf Rupp 15 und 16 Jahre alt, wurden wegen Beihilfe durch Unterlassen zu zweieinhalb beziehungsweise dreieinhalb Jahren Jugendstrafen verurteilt.

Das Problem: Für ein derartiges brutales Tat- und Verschleierungsgeschehen gab es auf dem ganzen Hof nicht die allerkleinste Spur, obwohl höchst intensiv gesucht wurde. Trotz des Gemetzels auf dem verwahrlosten Bauernhof keine Blutspuren und keine Knochenreste.

Die Geständnisse sind noch im Ermittlungsverfahren widerrufen worden, das Schwurgericht stützte sich nur auf diese Einlassungen, obwohl sie vom Tatablauf erheblich voneinander abwichen. Und ein Motiv hatten die Richter schnell gefunden: die familiäre Situation war schwierig, das Opfer war tyrannisch, und zudem hatten sich Schulden angehäuft. Punkt.

Das Landgericht formulierte sogar in seinem Urteil, dass die „restlichen Leichenteile“ möglicherweise an die Schweine verfüttert wurden. „Der Kammer ist bekannt, dass Schweine als Allesfresser auch die restlichen Leichenteile samt Knochen fressen würden.“ Die Richter unterstellten den Angeklagten, dass diese nunmehr geschlachteten Schweine dann von der Familie gegessen worden sind.

Dumm nur für die bayerische Justiz, dass am 10. März 2009 der verschwundene Mercedes 230 E des Opfers oberhalb der Staustufe Bergheim aus der Donau geborgen wurde. Auf dem Fahrersitz befand sich das, was von Rudolf Rupp übrig geblieben war, jedoch sonst vollständig und ohne Verletzungen, nur durch Fischfraß teilweise skelettiert. Die Rechtsmediziner schlossen ein Tötungsdelikt durch Erschlagen sicher aus.

Die Geständnisse der nicht sehr hellen Hauptbeschuldigten waren allesamt durch verbotene Vernehmungsmethoden, durch die Androhung körperlicher Gewalt oder auf suggestivem Wege zustande gekommen. Rechtsanwalt Klaus Wittmann aus Ingolstadt, der Verteidiger der Witwe, kritisierte das Verfahren bei der Polizei, weil die Angeklagten über weite Teile ohne Rechtsbeistand befragt wurden. Matthias E. warf den Polizeibeamten sogar vor, dass sie ihm Gewalt angedroht hätten, wenn er nicht endlich gestehen würde.

Selbst als der Bauer Rudolf Rupp unzerstückelt und unverfüttert tot in seinem Auto (Selbstmord oder Unfall) gefunden wurde, lehnte die Justiz das Wiederaufnahmeverfahren zunächst ab; es hielt die Verurteilung weiterhin im Ergebnis für richtig. Eine groteske Juristenlogik, die wohl nur Richter in ihrer eigenen Gedankenwelt verstehen.

Da der mediale Druck auf die bayerische Justiz nun ziemlich heftig geworden war, gab das Oberlandesgericht München am 9. März 2010 schließlich doch den Anträgen der Verteidigung auf Wiederaufnahme des Verfahrens statt. Alle Verurteilten wurden am 25. November 2011 von einer Kammer am Landgericht Landshut in einer Art zweiter Klasse freigesprochen. Die Richter waren nach wie vor davon überzeugt, dass einer oder mehrere der Angeklagten den Bauer getötet hatten. Es konnte nur nicht festgestellt werden, wer für den Tod verantwortlich sei. Haftentschädigungen wurden verweigert oder gekürzt mit der Begründung, dass sie schließlich die Tat gestanden hätten. Das problematische Zustandekommen ihrer Aussagen und den Widerruf ihrer Geständnisse noch vor dem Prozess 2005 wurden dagegen juristisch nicht aufgearbeitet. Sie hatten irgendwie etwas gestanden und waren somit selbst schuld an ihrem Unglück. Dass sich Rudolf Rupp selbst getötet hatte oder durch einen Unfall ums Leben kam – das schlossen die Richter, alle naturwissenschaftlichen und rechtsmedizinischen Erkenntnisse ignorierend, kategorisch aus. Und auch dies noch: Beim Oberlandesgericht München und beim Bundesverfassungsgericht gegen das Urteil eingereichte Beschwerden blieben erfolglos. Die Straf-Unrechtspflege in der neuen Bundesrepublik hat nicht nur in diesem Fall überlebt.

Bei den Schweinen konnten sich die Richter auch nicht mehr entschuldigen, denn die waren, wie wir schon wissen, inzwischen aufgegessen worden. Wie schrieb einst Bertolt Brecht in der „Historie vom verliebten Schwein Malchus“? „Doch die Sonne sieht wohl nicht / Jedes Schwein auf Erden / Und sie wandt’ ihr Augenlicht / Ließ es dunkel werden.“