25. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2022

Der Fall Carl Käselau

von Frank-Rainer Schurich

Der Autor und Aufklärer Günter Schwarberg (1926–2008) war lebenslang ein unermüdlicher Kämpfer gegen das bundesdeutsche Justizunrecht. Bundesweit bekannt wurde er durch die Aufklärung des Schicksals der 20 jüdischen Kinder, die noch in den letzten Kriegstagen im Keller einer Schule am Hamburger Bullenhusener Damm ermordet wurden. Seine vortreffliche Gerichtsreportage „Lebenslänglich für ein Gerücht“, die im Stern im Heft 5/1971 erschien, ist ein Beispiel für seine Gesinnung.

Er sprach im Frühsommer 1969 mit vielen Zuchthäuslern, um für den Stern eine Serie „Lebenslänglich“ zu schreiben. Mehrmals fiel ihm dabei auf, dass sich in der Mordkommission Lübeck ein Kriminalhauptkommissar Willi Koop durch besonders scharfe Vernehmungen hervortat. Schwarberg sprach mit einem Lebenslänglichen, der von Koop zum Geständnis eines Mordes gebracht worden war, den er wahrscheinlich nie beging. Weitere Vernehmungsopfer von Koop? Der Gefängnisinsasse wies auf Carl Käselau aus der Karpfenstadt Reinfeld bei Lübeck – ein stiller, alt gewordener Mann: „Der da, der ist unschuldig.“

Günther Schwarberg besorgte sich in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Rechtsanwalt Kaut, der auch die Vertretung von Käselau übernahm, die Akten. Und beide stießen auf ein sensationelles Dokument …

Was war geschehen? Der Fahrradmechaniker Carl Käselau saß seit zwölf Jahren im Zuchthaus, weil das niederträchtige Gerücht ausgebrütet worden war, er habe im November 1946 seine Frau Martha, die im Herbst 1946 plötzlich krank wurde, mit Rattengift ermordet. Dreieinhalb Jahre später heiratete Käselau ein zweites Mal. Der bösartige Ortsklatsch wurde immer heftiger, denn der Mann der neuen Ehefrau war eine Woche vor Martha Käselau verstorben. Nun sollte Käselau ein heimliches Verhältnis mit der Nachbarin gehabt haben, und beide hätten ihre Partner umgebracht – natürlich mit Rattengift, das bekanntlich als Giftstoff Thallium enthält. In Reinfeld mit den vielen Seen und Ratten gab es natürlich in fast allen Häusern Rattengift.

Zwölf Jahre brodelte die Gerüchteküche, bis ihn sein eigener Schwager Ernst Blunck bei der Lübecker Staatsanwaltschaft anzeigte. Das Gerücht wurde nun zur Staatsaffäre. Der erste Beamte, der die Anzeige auf den Tisch bekam, war der Lübecker Kriminalhauptkommissar Willi Koop – „ein Jäger und Geständnismacher“ (Günther Schwarberg). Zeugen hatten ausgesagt, dass Martha an Haarausfall litt, wie bei einer Thalliumvergiftung. Also ließ Koop die beiden Leichen exhumieren, es wurde aber kein Gift festgestellt. Der ausgegrabene Nachbar war zudem schon viele Jahre vor seinem Tod lungenkrank gewesen und an Tuberkulose gestorben.

Koop war sich dennoch ziemlich sicher, so dass er Carl Käselau am 22. Januar 1959 festnahm. Natürlich war in dessen Haus auch Celiopaste zu finden, ein thalliumhaltiges Rattengift.

Nun begannen Koops berüchtigte Vernehmungen. Käselau beschrieb später die Anwendung psychischen und physischen Zwanges so: „Ich musste immer an der Heizung sitzen, acht Stunden, zu essen gab’s auch nichts, und dann hatte der Koop Augen, die waren immer starr auf mich gerichtet und schienen mir schließlich doppelt so groß zu sein wie normal, und die Heizung wurde immer heißer. Und auf einmal sagte der Koop: ‚Sie haben mit dem Kopf genickt. Die Beweise sind geschlossen!‘ Da habe ich gedacht: ‚O Gott, die Beweise sind geschlossen?‘, und dann habe ich einfach gesagt, dass ich es war.“

Käselaus spätere Geständniswiderrufe blieben unerhört und wurden zum Teil von den vernehmenden Kriminalbeamten geleugnet. Tatsächlich hatte Koop von dem damals 62-Jährigen mehrfach Geständnisse erpresst. Als Carl Käselau einmal die Aussage verweigerte, erklärte Koop, dass er ihn nicht vernehmen wolle, sondern er wolle nur über die inzwischen eingetroffene Personalakte des Vaters von Käselau sprechen. Auf diese Art und Weise verwickelte der Kriminalbeamte den Beschuldigten abermals in eine Vernehmung und brachte ihn erneut zum Geständnis.

Im August 1960 fand der Prozess am Lübecker Schwurgericht statt, in dem das „Geständnis“ das Hauptbelastungsstück war. Käselau habe seine Frau mit Thallium vergiftet, obwohl an der Leiche kein Thallium nachgewiesen werden konnte. Der Sachverständige, Diplomchemiker Dr. Pribilla vom Gerichtsmedizinischen Institut Kiel, leistete Schützenhilfe. Er schloss eine Krebserkrankung mit Sicherheit aus, und das Thallium in der Leiche habe sich im Laufe der Zeit wahrscheinlich „verflüchtigt“. Am 12. August 1960 wurde Carl Käselau von Landgerichtsrat Dr. Brammer und seinen Beisitzern und Geschworenen wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Damit schien die Akte Käselau für immer und ewig geschlossen zu sein.

Aber Rechtsanwalt Kaut und Günther Schwarberg, die sich des Falles angenommen hatten, fanden in einer Krankenakte der verstorbenen Frau, die sich bisher keiner angesehen hatte, einen Arztbericht des Kreiskrankenhauses Bad Oldesloe vom 17. Juli 1943: Martha Käselau litt an einer inoperablen Krebserkrankung mit Metastasen. Das Bauchfell fanden die Ärzte „vollkommen karzinomatös zersetzt“.

Der Sachverständige Dr. Pribilla hatte diesen klaren Befund genau in sein Gegenteil verkehrt: Das Krebsgeschwür sei operativ entfernt worden, so dass Frau Käselau wieder völlig gesundete.

Rechtsanwalt Kaut befragte drei wirkliche Giftsachverständige, die übereinstimmend aussagten, dass sich das chemische Element Thallium gar nicht zersetzen kann; es lässt sich noch nach vielen Jahrzehnten, wenn nicht sogar nach Jahrhunderten nachweisen.

Am 21. Dezember 1970 beschloss das Landgericht Lübeck die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Unterbrechung der Vollstreckung, so dass Carl Käselau einen Tag später aus dem Zuchthaus entlassen wurde. Seine Ehefrau setzte ihn vor die Tür, so dass Günther Schwarberg ihn bei sich zu Hause aufnahm.

Als er wieder in Reinfeld war, gab es an den Stammtischen und anderswo neues Gerede. Das ist nun das Ergebnis der Justizreformen von Herrn Heinemann, sagten die Leute, jetzt lassen sie sogar wieder die Mörder laufen.

Schwarbergs Fallanalyse schließt mit folgenden Worten: „Auch die Justiz hat sich auf ihre Art den Fall Käselau zurechtgebogen. Das Landgericht Lübeck, das wegen der fehlerhaften Gutachten des Sachverständigen Dr. Pribilla die Wiederaufnahme des Falles Käselau zugelassen hat, bestellte für das neue Verfahren auch gleich einen neuen Sachverständigen. Der neue Gutachter ist der alte, der inzwischen zum Professor gewordene Dr. Pribilla.“

Carl Käselau starb 1975, und die mit dem Wiederaufnahmeverfahren befassten Richter ließen sich so lange Zeit, dass das Justizopfer den Ausgang des Verfahrens nicht mehr erlebte. Sein Antrag wurde nach seinem Tod verworfen mit der Begründung, er habe ja ein glaubwürdiges Geständnis abgelegt. Man kam aber nicht um die Feststellung herum, dass seine Frau nicht an Rattengift, sondern an Krebs gestorben war.

Henri Nannen, der langjährige Herausgeber und Chefredakteur des Stern, zitierte in einem emotionalen Vorwort zu Schwarbergs Reportage einen nicht näher benannten, aber erfahrenen Juristen so: „Richter und Staatsanwälte sind störrisch wie die Maulesel; wenn sie sich einmal eine Meinung gebildet haben, sind sie nicht so leicht davon abzubringen.“ Auch gegen jeglichen logischen Verstand, wie der justizielle Verfahrensausgang im Fall Käselau eindrucksvoll beweist. „Schreckliche Vorstellung“, so Nannen weiter, „dass es Ihnen und mir passieren kann, in diese Mühle hineinzugeraten. Ich meine, da muss etwas reformiert werden.“