26. Jahrgang | Nummer 11 | 22. Mai 2023

Gefährte des Ikarus

Aus dem Zwielicht grüßte beginnendes Grauen
Vogelflüge, darin ich mich fahl verstieg.

 

Stephan Hermlin
Ballade vom Gefährten Ikarus, 1944

von Wolfgang Brauer

Der Dichter Stephan Hermlin ist schwer zu fassen. Das Werk ist vergleichsweise schmal an Umfang. Da sind kaum zwei Dutzend Erzählungen. Da ist die Lyrik. Hochartifiziell, in strengste Form gefasst. Poetische Bilder, die sich der flüchtigen Aneignung verweigern, quantitativ kärglich. Nach 1958 schrieb Hermlin kein einziges Gedicht mehr. Da ist „Scardanelli“, ein Hölderlin-Hörspiel. Aber was für eins! Es gibt einige Bände Aufsätze, Reden, Interviews. Buchbesprechungen, die keine Besprechungen im eigentlichen Sinne sind. Das sind Texte, die nur einem dienen: der Verteidigung der Poesie und der Hereinholung von Welt in das kleine Land, dessen Regierer stets misstrauisch zum eigenen Gartenzaun blickten. Ich begegnete ihnen erstmals im Aufbau-Band „Lektüre“. Nicht nur mir öffnete Stephan Hermlin die Tür zur Weltliteratur mit diesem Buch. Einen „Verteidiger der Kunst in Zeiten der Unkunst“ nannte ihn Rainer Kirsch auf einer Gedenkveranstaltung im Berliner Ensemble 1997, wenige Wochen nach dem Tod des Dichters.

Und dann „Abendlicht“, ein Stück deutsche Jahrhundertprosa, das 1996 ein Schreiber namens Karl Corino als „ein Heldenleben zusammengeschwindelt“ abqualifizierte. Dass da ein gewisser Unterschied zwischen Autobiographie – von der Corino offenbar annahm, es handele sich dabei um ein Genre höchster Wahrheiten – und künstlerischer Prosa besteht, will solchen Leuten nicht eingehen. Ihr Auftrag lautet zu allen Zeiten niedermachen, dafür werden sie bezahlt.

Dennoch ist die Biographie des Dichters ausgesprochen enigmatischer Natur. Hans-Dieter Schütt hat jetzt ein Buch vorgelegt, das sich mit dem Lebenswerk Hermlins befasst. Schütt räumt ein, eine Biographie gar nicht erst versucht zu haben. Dennoch teilt er Biographisches mit, präsentiert vor allem höchst unterschiedliche Sichten auf dieses Dichterleben von Leuten, die Hermlin zumindest geistig nahestanden, manche auch feindlich. Es sind Annäherungen an einen Autor, der einigen als eine Art „Grandseigneur“ der DDR-Literatur gilt, anderen wiederum als eine Art poetischer Scharlatan. Aber niemand, diese Beobachtung setzt Schütt an den Beginn seines großen Essays, komme an Hermlin vorbei, wenn es um die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts gehe.

Hans-Dieter Schütt nähert sich der Poesie äußerst behutsam. Er weiß, dass einhundert Leser einhundert verschiedene Gedichte wahrnehmen, auch wenn sie alle ein- und denselben Text lesen. Aufschlussreich sind seine Beobachtungen hinsichtlich der „Städteballaden“.

Aber sein Hauptstück ist die Untersuchung der Prosa. Nicht so sehr die biographischen Erzählungen aus dem Widerstand „Die erste Reihe“ (1951). Schütt spricht von einem „ästhetischen Klassizismus“, aber der Dichter „sei freilich ganz Partei“. Mit der Partei allerdings, so sein spätes Eingeständnis, habe er schon seit 1950 über Kreuz gelegen. Merkwürdigerweise haben das zu seinen Lebzeiten nur wenige mitbekommen. Aber den Lesenkönnenden mussten schon Zweifel befallen, ob Bechers Forderung nach einem „Sich-in-Übereinstimmung-bringen“ dem Skeptiker Hermlin überhaupt möglich war. Johannes R. Becher scheiterte am eigenen Lebenskonzept. Schütt erinnert immer wieder an das ambivalente Verhältnis der beiden Poeten. Eines der letzten Gedichte Hermlins ist Becher gewidmet: „[…] Denn gegeben ist ihm nimmer, nicht dort, nicht hier / Stillung bitteren Zwists. Lang schon, zu lang im Streit / Lieget, im unerhörten, / Mit dem künftigen jeder Tag.“ – „Der Tod des Dichters“ beschloss übrigens die bereits erwähnte Gedenkveranstaltung im Berliner Ensemble.

Schütts Nachdenken „entlang eines Dichters“ macht – bei aller Orientierung auf die Prosa und die kulturpolitischen Fehden dieses Dichterlebens – immer wieder auf die Lyrik Hermlins aufmerksam. Mit dem von ihr angeschlagenen Kammerton im Unterbewusstsein lesen sich die Erzählungen ganz anders.

Der Autor konzentriert sich auf einige Schlüsseltexte. „Der Leutnant Yorck von Wartenburg“ zum Beispiel, eine Erzählung zu der Hermlin durch Ambrose Bierce („Eine Begebenheit an der Eulenflussbrücke“) angeregt wurde. Schütt spricht angesichts der Vision des vor dem Henker stehenden Anti-Hitler-Verschwörers von einer deutschen Möglichkeit, dem „Idealismus in Uniform“, und bemerkt, dass militärisch konditionierte Visionen die deutsche Literatur prägen würden. Von Lessings Major von Tellheim über Kleists Homburg und Grabbes Schlagetoterich Hermann bis hin zum Condottiere Wallenstein macht er eine Art Ahnenreihe auf, die noch heute präge. Es gibt allerdings auch eine pazifistische Linie, die er leider unterschätzt, die nicht nur von Wolfgang Borchert präsentiert wird, auch der von Hermlin geschätzte Wilhelm Lehmann gehört dazu – und in der DDR beispielsweise Erich Köhler, der 1986 empfahl, Homer durch Hesiod zu ersetzen. Das musste ebenso scheitern wie Christa Wolfs Ansatz, gegen „das Vieh Achill“ Kassandras Ethos zu stellen, nach dem Ende der DDR keine Nachhaltigkeit beschieden war.

Aufgemerkt habe ich über die Spurensuche Hans-Dieter Schütts angesichts des sorgsam verborgenen Jüdischseins Stephan Hermlins. Er meint, da sei immer eine „Urangst“ gewesen. Und Ausfluss dieser Furcht sei die Erzählung „Die Kommandeuse“ (1954), die von der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur noch immer benutzt wird, um Hermlin vorzuwerfen, er habe „sich aber auch nach 1990 nicht vom propagand. Gehalt seiner Novelle distanziert“. Da sind sie wieder, die Corinos. Es ist nicht die vermeintliche Kongruenz der literarische Figur mit der historischen Erna Dorn – die tatsächlich nie KZ-Kommandantin war –, es ist die ganze Richtung, die ihnen nicht passt.

Schütt: „Der Feind in den Erzählungen ist der Faschismus. Aber doch nicht nur. Der Feind ist auch die Stumpfheit, die Feigheit in den eigenen Reihen.“ Es ist nicht nur Feigheit, auch wenn Schütt – der ehemalige Junge Welt-Chef der Vorwendezeit – sich als gewesener „Parteijournalist“ selbst vorwirft: „Die Seele verfettet vor Feigheit.“ Er zitiert auch die Hermlin-Erzählung „Mein Friede“. Der Dichter berichtet vom stummen Warten der befreiten russischen und ukrainischen Zwangsarbeiter, die wieder zurück in die Heimat fahren: „Die Ihren hatten gesiegt. Jetzt stiegen sie ohne einen Laut auf ihre Lastwagen.“ Kommentar des Autors: „So entstehen Sieger, die ihren Grimm, ihre Angespanntheit nicht abschütteln können.“ Stephan Hermlin hatte das vor fast 80 Jahren genauer gesehen: Diese Menschen ahnten, was sie in der Heimat erwartet. Dem deutschen Zwangslager würde das sowjetische, für viele tödliche, folgen.

Zu Beginn seines Essays warnt Schütt die später Geborenen vor voreiligem Urteilen. Nicht immer entgeht er selbst dieser Gefahr. Aber die von ihm gewählte Form, der Versuch einer Annäherung, die immer wieder gestoppt wird, wenn sie in das Postulat abzugleiten droht, ermöglicht dem Leser den Dialog, ja den Widerspruch. Auch das macht seinen Essay besonders.

„Bei wem sollen wir denn sonst lernen?“, zitiert er Henri Gontard aus Hermlins Hörspiel „Scardanelli“. Die Heroengestalten taugen dazu nicht. Es sind die, die zur Sonne strebten und dann zum Absturz verdammt waren. Es war kein Zufall, dass die Zensoren der DDR-Kulturpolitik äußerst misstrauisch die Antike-Rezeption in der Literatur und Bildenden Kunst des Landes beäugten und aus ihrer Sicht überaus berechtigt zu Verboten neigten. Prometheus, Ikarus und die anderen … Da ging es nicht nur um Wolf Biermann, den selbsternannten „preußischen Ikarus“. Das ging auch gegen Leute wie Stephan Hermlin, die waren eigentlich die Gefährlicheren. Hans-Dieter Schütt zitiert Lew Kopelew, der berichtet, dass Hermlin ihm im Umfeld der 1964er Kafka-Auseinandersetzungen gesagt habe, dass er nicht mit denen sein werde, „die andere an die Wand stellen, sondern mit denen, die an der Wand stehen.“ Das war eine Replik auf von Erschießungen träumende SED-Kulturpolitiker.

„Größe ist das, was Würde schafft, ohne die Furcht bannen zu können“, schreibt Schütt. Und er zitiert Gustav Seibt: „Er ist ein Klassiker, einer von denen, die man in Frankreich in einen einzigen Dünndruckband zusammenfassen und der dauerhaften Überlieferung der Nation zuschlagen würde.“ Die Gefahr besteht in Deutschland nicht. Bei uns geben die literarischen Glaubenswächter den Ton an. Den Rest richtet der Markt. Dennoch, Stephan Hermlin gehört zu den Großen. Und die Poesie fragt nie danach, ob sie willkommen ist. Das geschriebene Wort bleibt. Hans-Dieter Schütt öffnet Zugänge auf ein nur auf den ersten Blick hermetisch abgeschlossenes Werk eines Dichters, der zu scheinbar aufwärts steigenden Vogelflügen strebte, deren Grauen sich ihm zu spät offenbarte. 

Das wiederum ist große Essay-Kunst.

Hans-Dieter Schütt: Stephan Hermlin. Entlang eines Dichters, Quintus-Verlag, Berlin 2023, 296 Seiten, 25,00 Euro.