Für Japans Weltraumfahrt lief es in letzter Zeit nicht gerade gut: Erst verlor sie im Oktober vergangenen Jahres eine ihrer Epsilon-Raketen mitsamt deren kostbaren Fracht – dem Technolgiedemonstrator RAISE-3 der japanischen Weltraumbehörde JAXA, zwei Beobachtungssatelliten des in Fukuoka ansässigen Weltraum-Unternehmens iQPS sowie fünf von japanischen Universitäten entwickelten Kleinsatelliten. Am 7. März dieses Jahres der nächste Tiefschlag: Die zweite Stufe der nagelneuen H3-Rakete zündete nicht – nach rund fünfzehnminütigem Flug musste daher das seit 2014 gemeinsam von JAXA und Mitsubishi Heavy Industries entwickelte Trägersystem zur Explosion gebracht werden. Mit an Bord: der drei Tonnen schwere Erdbeobachtungssatellit ALOS-3, dem Vernehmen nach, ausgerüstet unter anderem mit einem Sensor des japanischen Verteidigungsministeriums zur Früherkennung ballistischer Raketen.
Japanische Medien befürchteten das Schlimmste: Der gescheiterte Start der H3, leitartikelte am 8. März die einflussreiche Asahi Shimbun, lasse Zweifel an Japans Weltraumprogramm aufkommen: H3-Vorgängerin H2-A habe sich mit 40 erfolgreichen Starts als äußert zuverlässig erwiesen. Allerdings sei sie mit knapp 73 Millionen US-Dollar pro Start international zu keinem Zeitpunkt konkurrenzfähig gewesen. Eben deshalb habe man die H3 mit dem Ziel entwickelt, die Kosten um die Hälfte zu senken. Die Anzahl der Teile und Komponenten sei reduziert worden, während zugleich verstärkt Konsumprodukte, etwa aus der Autoindustrie, zum Einsatz gekommen seien. Darüber hinaus habe man Einsparungen am Bodenpersonal vorgenommen. Könnte es sein, fragte die Zeitung, dass der Versuch mit der H3 eine effektivere Rakete mit geringerem finanziellen Aufwand zu schaffen, etwas unrealistisch gewesen sei. Auch werfe das Ganze Fragen hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen JAXA und der Privatindustrie auf …
Nun sind Rückschläge gerade im Bereich der Weltraumforschung keinesfalls ungewöhnlich. Auch in Japan lief seit dem Start der ersten sogenannten Stiftrakete 1955 nicht alles rund. So kosteten die vergeblichen Versuche des 1964 an der Universität Tokio gegründeten Instituts für Weltraumforschung (ISAS), in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mit Hilfe einer von Nissan gebauten Lambda-Trägerrakete einen eigenen Satelliten auf eine Umlaufbahn zu schicken, den Vater des japanischen Weltraumprogramms, Hideo Itokawa (liebevoll „Dr. Rocket“ genannt) seinen Job. Auch die ab 1984 vorangetriebene Entwicklung der H2, der ersten rein japanischen schweren Trägerrakete, durch die 1969 gegründete Nationale Raumfahrtentwicklungsbehörde (NASDA) verlief alles andere als reibungslos: Zwischen 1994 und 1999 flog sie lediglich siebenmal, wobei sie zweimal in Folge versagte. Auch war sie mit rund 190 Millionen US-Dollar pro Start um ein vielfaches teurer als technisch ähnliche Modelle wie die westeuropäische Ariane. Das Pech verfolgte auch die eine oder andere Weltraummission: Die 1998 gestartete Marssonde Nozomi passierte nach massiven Orientierungsproblemen mit vierjähriger Verspätung den Roten Planeten, ohne auf eine Umlaufbahn einzuschwenken. Nicht minder dramatisch: Der Venus-Klima-Orbiter Akatsuki – gestartet 2010 – verfehlte ebenfalls sein Ziel, umkreiste stattdessen jahrelang die Sonne, ehe es 2015 gelang, ihn auf eine Umlaufbahn um die Venus zu bringen, wo er bis heute Daten sammelt.
Glück im Unglück. Wie bei der Hayabusa-Mission zum Asteroiden Itokawa. Gestartet 1998 landete die Sonde 2005 auf dem nach „Dr. Rocket“ benannten Himmelskörper. Trotz permanenter technischer Probleme gelang es bis 2007, 1500 Kleinstpartikel einzusammeln, die 2010 die Erde erreichten. Eine zweite Hayabusa-Mission zum Asteroiden Ryugu (2014-2020) gestaltete sich allerdings zu einer Sternstunde des japanischen Weltraumprogramms.
Insgesamt sind Japans von der Welt wenig beachtete Weltraumaktivitäten durchaus reich an Höhepunkten: Als viertes Land (nach der Sowjetunion, den USA und Frankreich) platzierte es 1970 mit Ōsumi einen Satelliten im All, brachte 1975 mit Kiku 2 als Dritter einen Satelliten auf eine geostationäre Bahn und startete 1977 mit Himawari seinen ersten Wettersatelliten. Mitte der 1980er Jahre beteiligte sich Japan mit den Sonden Sakigake und Suisei an der Erkundung des Halleyschen Kometen. Das dafür in Saku (Nagano) errichtete Usuda-Weltraumlaboratorium mit seiner 64-Meter-Parabolantenne galt damals als revolutionäre Technologie. Mit Hiten umkreiste 1990 erstmals eine japanische Sonde den Mond. Und als sie 1993 gezielt auf der Vorderseite des Erdtrabanten zum Absturz gebracht wurde, war Japan diesmal das dritte Land, das ein Objekt auf den Mond brachte. Mit der Raumsonde Kaguya startete das Land 2007 seine zweite Mondmission. Zentrale Aufgabe war die Erforschung der mineralogischen Struktur des Mondes sowie dessen Kartierung. Die dabei zur Erde gesendeten hochauflösenden Fotos setzten neue Maßstäbe. Darüberhinaus startete Japan (unter anderem vom norwegischen Svalbard Rakettskyttefelt und der Showa-Forschungsstation auf der Antarktik-Insel Ost-Ongul) über die letzten Jahrzehnte hunderte von Raketensonden zur Erforschung von Mikrogravitation, des Ozonlochs, der Ionosphäre sowie des Polarlichts.
Für die Zukunft hegt man nicht minder ehrgeizige Pläne: Mit der Präzisionslandefähre SLIM möchte man möglichst noch in diesem Jahr auf den Mond zurückkehren. Eine neue Mission zum Roten Planeten ist für kommendes Jahr geplant, wobei der Schwerpunkt der sogenannten MMX-Mission auf der Erforschung der Mars-Monde Phobos und Deimos liegen soll. Noch tiefer in den Raum greifen möchte man mit dem Röntgensatellit XRISM, vorgesehen als Ersatz für das 2016 nach nur kurzer Zeit ausgefallene Hitomi-Teleskop, von dem man sich essentiell neue Erkenntnisse über die Struktur des Universums, über galaktische Phänomene und dunkle Materie verspricht.
Natürlich braucht das Land für all diese Missionen leistungsfähige Trägermittel.
Noch ist letztlich nicht klar, warum Japans neue Rakete Anfang März versagte. Und bis zum Abschluss der Untersuchungen wird sich aufgrund ihrer technologischen Verwandtschaft mit der H3 auch keine weitere H2-A ins All erheben. Das lässt nicht wenige japanische Weltraumenthusiasten eher verzagt in die Zukunft blicken.
Dabei sind die eigentlichen Herausforderungen für Japans Weltraumprogramm weniger technischer, sondern vielmehr wirtschaftlicher und politischer Natur.
Da steht zum einen die Frage, wie Japans Weltraumfahrt künftig finanziert werden soll. Ginge es nach JAXA-Präsident Hiroshi Yamakawa, sollte Japan, ähnlich wie die USA, seine Aktivitäten im All weitgehend privatisieren. Begonnen hat es damit bereits. So wird das japanische ISS-Wissenschaftsmodul Kibō seit 2018 zunehmend privatwirtschaftlich genutzt. Yamakawas eigentlichen Hoffnungen liegen freilich auf Japans über die letzten Jahre in Schwung gekommene Weltraum-Start-Up-Szene. Rund 30 Firmen sollen es inzwischen sein, die in einem recht breiten Spektrum tätig sind – von der Satellitenschrott-Beseitigung (Astroscale) über die Satellitenfertigung (Axelspace, iQPS) und die Produktion leichter Raketen (Space BD, Space One) bis hin zur Bereitstellung von Kommunikationsmitteln (Infostellar, Warpspace). Finanzielle Unterstützung erfahren sie durch Japans Regierung, die dafür einen speziellen Investment- und Kreditfond aufgelegt hat. Mit von der Partie sind zunehmend auch japanische Großbanken sowie „branchenfremde“ Unternehmen wie Toyota, die inzwischen gern und großzügig in Weltraumprojekte investieren. Inwieweit derartige Finanzkonstrukte wirtschaftlich belastbar sind, das heißt, letztlich national und international nachgefragte Produkte hervorbringen, bleibt abzuwarten. Der Kollaps der Silicon Valley Bank mit seinen verheerenden Folgen für die Weltraum-Start-Up-Szene in den USA jedenfalls scheint Japans vergleichbare Akteure bislang wenig zu tangieren.
Die größte politische Herausforderung für Japan und die Welt bleibt jedoch Tokyos zunehmende Identifizierung des Weltraums als Domäne nationaler Sicherheit. Als Japan Ende der 1960er Jahre mit Hilfe der US-Amerikaner begann, schwere Trägerraketen zu entwickeln, verfügte das japanische Parlament aus Furcht, dass dies in die Schaffung ballistischer Raketenkapazitäten münden könnte, im Jahre 1969, dass Japans Weltraumprogramm einen dezidiert nicht-militärischen Charakter haben müsse. Solange der Kalte Krieg währte, hielt man sich an diesen Grundsatz: Die Militarisierung des Weltraums überließ man gern dem Hauptverbündeten – nicht gut fand man lediglich, dass dieser japanische Technologie abgriff, während man selbst von Washington als „technologisches Mündel“ behandelt wurde. (So durften etwa die bis Mitte der 1980er Jahre gemeinschaftlich entwickelte Trägermittel von Japan international nicht vermarket werden). In den 1990ern sollte sich dies freilich ändern, hatte doch spätestens der zweite Golf-Krieg auch Tokio deutlich vor Augen geführt, welch bedeutende Rolle weltraumgestützte militärische Komponenten künftig spielen würden. Gleichzeitig verstärkten sich Zweifel, ob die Amerikaner ihre Sicherheitsgarantien im bisherigen Umfang dauerhaft aufrechterhalten würden. Zumindest eigene „Weltraumaugen“ mussten her! Der 2003 grandios gescheiterte Versuch, eine entsprechende Satellitenkonstellation zu realisieren, führte zur bis dato größten Umstrukturierung des japanischen Weltraumprogramms: Die „Forschungsbehörde“ ISAS wurde mit der „Trägerbehörde“ NASDA zur JAXA verschmolzen. Und ganz im Sinne der neuen Zeit verabschiedete 2008 das Parlament in Tokyo ein „Weltraumgrundgesetz“ (Uchūkihonhō), das erstmals den Weg zur militärischen Nutzung des Alls ebnete.
Intensiv begangen werden soll dieser auf der Basis von drei Ende vergangenen Jahres verabschiedeten sicherheitspolitischen Grundsatzdokumenten: der Nationalen Sicherheitsstrategie, der Nationalen Verteidigungsleitlinien sowie des Mittelfristigen Plans zur Entwicklung der Streitkräfte.
Vorgesehen ist zum Beispiel eine enge Zusammenarbeit zwischen JAXA und Japans Luftstreitkräften, die inzwischen zwei „Weltraumgeschwader“ betreiben, eines bei Tokio und ein zweites in der Präfektur Yamaguchi, wo derzeit ein leistungsstarkes Allwetter-Radar zur „Weltraumlageerfassung“ entsteht. Gleichzeitig hat das Pentagon damit begonnen, das japanische Quasi-Zenith-Satellitensystem (eine Art regionales GPS) mit eigenen Sensoren zu bestücken, womit es seinem Fiebertraum einer lückenlosen Kontrolle des erdnahen Raums über der südlichen Hemisphäre ein ganzes Stück näherkommen möchte. Offensichtlich soll Japan damit (ebenso wie Australien) mittelfristig zu einem Eckstein der sogenannte Proliferated Warfighter Space Architecture Washingtons gemacht werden – noch so eine drollige Idee. Aber wer erklärt das Japans neuen Möchtegern-Samurais?
Schlagwörter: Japan, Peter Linke, Satelliten, Streitkräfte, Trägerrakete, Weltraum