26. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2023

Antje Vollmer, Salut

von Max Klein

Es ist nicht einfach, Antje Vollmers zu gedenken, eines besonderen, reichen Lebens und Wirkens wegen, das man nicht kurz beschreiben kann und das doch lange in Erinnerung behalten werden wird. Als wir uns im Sommer 2012 in Berlin trafen, zum 100. Geburtstag von Carl Friedrich von Weizsäcker, da beklagte sie sich, dass in Wikipedia Dinge stünden, die nicht wahr, aber auch nicht korrigierbar wären. Trotzdem kann man dort einen Eindruck bekommen von einem ungewöhnlichen, sich treu gebliebenen Leben. Mit ihr, die bald 80 Jahre alt geworden wäre, verliert die deutsche Gesellschaft eine besonnene, sanfte, gebildete, kluge Stimme, die gerade in diesen Zeiten besonders vermisst wird.

Als Reaktion auf Antje Vollmers politisches Testament, das sie am 23. Februar in der Berliner Zeitung veröffentlichte, stellte Heribert Prantl die Frage, „Was, wenn statt Baerbock Antje Vollmer Außenministerin wäre?“ Antje Vollmer war studierte Theologin, Pastorin auf dem Lande, promovierte Dozentin, alleinerziehende Mutter, Hochschulassistentin, Gastprofessorin, Mitglied des Bundestages und dessen Vizepräsidentin undAutorin. Es mag unfair sein, dieses Leben mit dem unserer unerfahrenen Außenministerin vergleichen zu wollen.

Jedoch, Antje Vollmer war eine Frau des Ausgleichs, der Versöhnung, und hätte als „die schrillste Trompete der neuen antagonistischen Nato-Strategie“ nicht getaugt, „deren Begründungen durch argumentative Schlichtheit verblüffen“ (Vollmer, Berliner Zeitung). Die Bundesrepublik Deutschland hätte eine Außenministerin gehabt, klar in ihrem Urteil und gelebten „Werten“, die wohl hätte vermitteln können, da sie weder sich selbst, noch auch üble Konfliktparteien durch vorlaute Worte desavouiert hätte.

Dreimal war Antje Vollmer in großen Konflikten eine erfolgreiche und besorgte Vermittlerin, im Umgang mit Mitgliedern der RAF 1985, beim Streit der Fundis und Realos in der noch jungen, grünen Partei 1988, und bei der deutsch-tschechischen Versöhnung 1997. Politik, so zeigte sie nicht nur dort, kann von Politikern konstruktiv beeinflusst werden, ist nicht Schicksal, sondern Herausforderung. Bewegend und beachtenswert daher auch die in ihrem testamentarischen Artikel vorgenommene Würdigung der Rolle Michail Gorbatschows und die Bewertung der armseligen Reaktion des Westens auf dessen reale wie visionäre Politik, bis hin zur Verweigerung der letzten Ehre an dessen Grab.

Antje Vollmer gehörte zu jenen, die den Aufruf zur Friedensdemonstration in Berlin im Februar dieses Jahres unterzeichneten. Früher als viele andere hatte sie erkannt, welche Gefahren in der Ausdehnung der NATO nach Osten, im ungeklärten Sicherheitsstatus der Ukraine und der nicht vollzogenen Aussöhnung der ukrainischen und russischen Bevölkerung im Osten der Ukraine lagen, damals, als Putin die Krim besetzte. Im Dezember 2014 initiierte sie gemeinsam mit Horst Teltschick und Walther Stuetzle einen noch immer bemerkenswerten Aufruf, veröffentlicht in der ZEIT online am 5.12.2014 mit dem Titel:Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“, getragen von 60 Erstunterzeichnern, von Mario Adorf bis Gerhard Wolf, darunter Roman Herzog und Hans-Jochen Vogel, eine Vereinigung von Politik, Kultur und Öffentlichkeit, wie sie Antje Vollmer ja selbst verkörperte und erkennbar erstrebte. Es war eine frühe Warnung vor einem Zustand, der heute alle bedrängt und Leben vernichtet.

Man liest in diesem Appell eine Mahnung, die Geschichte nicht zu vergessen, Worte, die es heute schwer haben, verstanden oder gar befolgt zu werden: „Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch, unvernünftig und gefährlich für den Frieden. Seit dem Wiener Kongress 1814 gehört Russland zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas. Alle, die versucht haben, das gewaltsam zu ändern, sind blutig gescheitert – zuletzt das größenwahnsinnige Hitler-Deutschland, das 1941 mordend auszog, auch Russland zu unterwerfen.“ Den Begriff „anerkannte Gestaltungsmacht“ mag man für Russland heute nicht unkommentiert benutzen, und doch ist die historische Erkenntnis dem erklärten Ziel, Russland ruinieren zu wollen, deutlich überlegen.

Über die klare Verurteilung des russischen Überfalls auf die Ukraine geht Antje Vollmer jedoch weit hinaus, sorgt sich um Europa, mahnt sie doch in ihren letzten Worten in der Berliner Zeitung: „Was Europa immer wieder zu lernen hatte und historisch meist verfehlte, ist die Kunst der Selbstbegrenzung, der friedlichen Nachbarschaft, der Fairness, der Wahrung gegenseitiger Interessen und des Respektes voreinander.“ Und weiter: „Wenn mich nicht alles täuscht, steht Europa kurz vor der Phase einer großen Ernüchterung, die das eigene Selbstbild tief erschüttern wird. Für mich aber ist das ein Grund zur Hoffnung. Der so selbstgewisse Westen muss einfach lernen, dass die übrige Welt unser Selbstbild nicht teilt und uns nicht beistehen wird. Die eilig ausgesandten Sendboten einer neuen antichinesischen Allianz im anstehenden Kreuzzug gegen das Reich der Mitte scheinen nicht besonders erfolgreich zu sein.“

Antje Vollmer wurde durch die Erfahrungen ihres Lebens, auch ohne Amt, zu einer großen Politikerin, um die auch jene trauern werden, die sie weniger verstanden. Sie war eine große Aufklärerin, die nicht nur politisch, sondern auch literarisch herausragte. Angeregt durch Vera Lehndorff erschien im Jahre 2010 ihre berührende Darstellung des Kampfes von Heinrich und Gottliebe von Lehndorff. Beide führten nahe der „Wolfsschanze“ ein „Doppelleben“ im Gespräch mit Ribbentrop und mit Kontakt zu führenden Mitgliedern der Bewegung des 20. Juli, was für Veras Eltern tragisch endete, der Nachwelt jedoch nun erhalten ist. Im Dezember 2014 gehört „Veruschka“ zu den Erstunterzeichnern des Friedensappells.

Antje Vollmer widmete sich später dem Zustand und der Herkunft des vereinigten Deutschland und veröffentlichte gemeinsam mit Hans-Eckart Wenzel Bücher über zwei deutsche Filmregisseure: „Hinter den Bildern die Welt. Die untergegangene Bundesrepublik in den Filmen von Rainer Werner Fassbinder“ 2015 sowie „Konrad Wolf. Chronist im Jahrhundert der Extreme“ 2019, deren Filme sie alle gesehen hatten. Im vorigen Jahr führen die beiden darüber eine wunderbare Unterhaltung (YouTube) – über die vergangenen Zeiten, ohne die man das Heute und die beiden so verschiedenen deutschen Gesellschaften nicht versteht, über „Menschen, die zwischen die Stühle geraten“, solche, die blieben oder gingen, die unendliche Energie von Fassbinder und den „Funken Hoffnung, den (Konrad Wolf) doch nicht aufgeben wollte“. Der Zauber der Antje Vollmer besteht in ihrer Kultur und stillen Unabhängigkeit.

Antje Vollmer stand auch dem Blättchen nicht fern. Im November 2016 gab sie der Redaktion ein langes Interview. Ende Dezember 2022, als neues Mitglied der Redaktion, schrieb ich ihr:Ich hatte Sie gefragt, ob Sie für mein erstes Heft, Anfang Januar, vielleicht eine Aussicht schreiben wolle, eine Aussicht auf dieses Jahr 2023 und die Wiederherstellung der Vernunft und dann des Friedens, wenige oder viele Sätze… Ihre Antwort waren die letzten Worte, die wir wechselten: „Herzlichen Dank, lieber Herr Klein, für Ihre so wohltuenden Worte. Leider reicht meine Kraft auch nicht mehr für Ihren reduzierten Vorschlag – aber doch dazu, auch Ihnen alles Gute zu wünschen für das neue Vorhaben. Herzlich, Ihre Antje Vollmer.“ Ich kannte sie seit der Wendezeit, zuhörend und erklärend. Wir werden sie nicht vergessen.

Im Februar erschien dann doch noch dieser große Text in der Berliner Zeitung, der mit einem Vermächtnis endete, an alle gerichtet: „Der Hass und die Bereitschaft zum Krieg und zur Feindbildproduktion ist tief verwurzelt in der Menschheit, gerade in Zeiten großer Krisen und existentieller Ängste. Heute aber gilt: Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planenten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.“